Elisa, 24

Geküsst, gekuschelt und vergewaltigt

Ich bin Elisa. Ich wurde vergewaltigt. Eine Vergewaltigung ist jedes Eindringen in den Körper einer Person, das gegen den erkennbaren Willen der Person durchgesetzt wird.

Ich bin vergewaltigt worden und das ist jetzt fast ein Jahr her. Genauso lange habe ich gebraucht, um mich zu trauen, diesen Satz laut auszusprechen. Weil vielleicht bin ich selbst schuld? Ein bisschen zumindest? Gibt es das überhaupt? Ein bisschen Schuld? Ich habe damals einen Mann über eine Dating-App kennengelernt. Er schien mir sofort sympathisch und ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Aber es lief nichts, er hat auch keinen Versuch gestartet. Weil ich durch die guten Gespräche die Zeit vergass, verspasste ich meinen letzten Zug für nach Hause. Er bot mir an, mit mir am Bahnhof auf den ersten Zug zu warten oder ich könnte bei ihm schlafen. Ich war ziemlich müde und deshalb bin ich damals mit ihm nach Hause gegangen. Auf dem Weg zu ihm küssten wir uns zum ersten Mal. Dann immer wieder und wieder. Als wir bei ihm zuhause ankamen, waren wir ganz alleine, nur er und ich. Auf seinem Balkon genossen wir noch die letzte Zigarette und bestaunten den klaren Sternenhimmel. In diesem Moment fühlte ich mich frei und glücklich. Ich genoss die schöne Stimmung und wir küssten uns wieder. Er zog mein T-Shirt aus und beugte sich hinunter, und ich spürte seinen warmen Atem an meinen Brüsten. Ich schaute ihm tief in die Augen und sagte ihm klar: «Ich will keinen Sex, bei Oralsex ist meine Grenze, ist das okay für dich?» «Das ist in Ordnung, entspann dich und geniess es», flüsterte er mir ins Ohr.

Es ging nicht lange und unsere Kleider waren schnell auf dem ganzen Boden verteilt. Doch fünf Minuten später drehte er mich unsanft auf meinen Rücken. Hob mit einer Hand meine Hände über meinen Kopf und mit der anderen spreizte er meine Beine, sodass er in mich eindringen konnte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was gerade mit mir passierte. Dann schrie ich ihn an: «Hör sofort auf!» Noch heute kann ich mich an sein verwundertes Gesicht erinnern. Glaubte er tatsächlich, ich wollte mitmachen? Ich verstehe bis heute nicht, wie er auf diese Idee kam. Ich habe ihm doch klar und deutlich meine Grenzen aufgezeigt. Mit ganzer Kraft versuchte ich, ihn mit meinen Knien von mir wegzudrücken, aber es klappte nicht, denn er war viel stärker und grösser als ich. Mit aller Mühe gelang es mir jedoch, eine Hand zu befreien und ich versuchte, ihn von mir wegzudrücken. In diesem Moment liess mich mein Körper im Stich. Mein Körper erstarrte und ich konnte mich nicht mehr wehren. Verzweifelt fügte ich mich wimmernd meinem Schicksal. Nach ein paar Minuten war alles vorbei und er ging endlich von mir ab und schlief ein. Ich lag wie erstarrt in seinem Bett und schlief keine Sekunde in dieser Nacht. Um sechs Uhr morgens schaffte ich es aus meiner Erstarrung und packte meine Sachen. Ich ging nach Hause und versuchte, das Ganze so schnell wie möglich zu verdrängen. Noch zwei weitere Wochen habe ich versucht, so zu tun, als sei nichts passiert. Als habe dieser Moment nie existiert. Das Erlebte fühlte sich für mich an, als wäre es ein schwammiger Albtraum.

Da ich damals noch gar nicht realisiert hatte, was mir zugestossen war, kam ich auch nicht auf die Idee, gegen ihn Anzeige zu erstatten. Noch drei weitere Monate vergingen, bis ich endlich realisierte, was mit mir widerfahren war. Ich wurde vergewaltigt. Ich schämte mich, es fühlte sich widerlich an und ganz laut sagte eine Stimme in meinem Kopf: «Du bist doch selber schuld.» Nichts, aber wirklich nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie es mir danach ging. Schon nur der Gedanke, mit jemanden alleine in einem Zimmer zu sein, führte zu einer Panikattacke. Ich konnte kaum aus dem Haus gehen und meine Tage waren gefüllt von Angst. Als es nicht mehr ging, habe ich mir Hilfe geholt. Es wurde besser und ich war dabei, das Erlebte zu verarbeiten. Ungefähr zwei Monate ist es gut gegangen. Ich dachte bereits, ich habe es überwunden und könne nun wieder glücklich weiterleben, wie zuvor. Dann fingen die Panikattacken wieder an. Ich fühlte mich unwohl, aber diesmal war es anders. Nicht das Geschehene löste die Panikattacken aus, sondern ich selber. Mein Körper und wie ich mich damit fühlte. Sport zu machen war nicht mehr möglich. Der Gedanke, dass der Körper, der nun Sport macht, der gleiche Körper ist, der mich damals im Stich gelassen hat, reichte aus. Wenn es wieder einen Tag gab, an dem ich den ganzen Tag im Bett lag und nicht aufstehen konnte, erinnerte ich mich an den Tag und wie gelähmt ich mich fühlte. Es war egal was ich machte, mein Körper war das Problem und dies brachte einen riesigen Selbsthass in mir auf. Nachdem die Panikattacken immer schlimmer wurden, begann ich wieder mit der Therapie.

Mittlerweile hat es sich wieder beruhigt und ich hatte seit zwei Monaten keine Panikattacke mehr. Aber noch heute, wenn mich eine verschwitze Person berührt, habe ich sein Gesicht vor Augen, meine Kehle schnürt sich zu und habe das Gefühl jeden Moment zu ersticken. Ich bin sehr froh darüber, dass ich mir professionelle Hilfe geholt habe. Über das Erlebte möchte ich nicht mehr schweigen, weil ich selbst nicht glauben kann, wie lange ich mich für die Vergewaltigung verantwortlich gemacht habe. Ich bin überzeugte Feministin. Sofort würde ich auf die Strasse gehen, wenn es um die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen geht. Würde mir jemand die Geschichte erzählen, würde ich ihn bestärken, rechtliche Schritte einzuleiten. Ich habe das damals nicht getan, habe die Dating-App und seine Nummer gelöscht. Tatsächlich habe ich den Namen des Mannes vergessen oder vielleicht verdrängt. Ich könnte auch nicht mehr sagen, wo sich seine Wohnung befindet. Aber trotzdem ertappe ich mich auch noch heute immer wieder dabei, wie ich denke: «Vielleicht war das Ganze ja ein Missverständnis und er dachte, es ist okay? Vielleicht habe ich es zu wenig deutlich gesagt? Vielleicht war es ihm gar nicht bewusst, was er da getan hat?» Aber für das gibt es eine klare Antwort. Nein. Ganz sicher war ihm in dem Moment nicht bewusst, dass er gerade eine Straftat begeht. Hat er aber. Er ist sicher kein zutiefst schlechter Mensch, aber in dieser Nacht wurde er zum Vergewaltiger.