Chloé, 21

Friss oder stirb

Ich bin Chloé. Ich war magersüchtig. Magersucht ist eine Form von Essstörung. Davon betroffene Menschen besitzen eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers und verweigern aus Furcht vor Gewichtszunahme die Aufnahme von Nahrung.

Bei mir begann der ganze Irrsinn, als ich 12 Jahre alt war. In der Schule wurde ich plötzlich von meinen Freundinnen gemobbt und kurze Zeit später erlag mein Grossvater seinem Herzleiden. Mein Leben geriet ausser Kontrolle. Irgendeine Stimme flüsterte mir zu, dass ich die Kontrolle wiedererlangen könnte, wenn ich fortan mein Essverhalten aufs Schärfste reglementierte. Nachdem zunächst nur bestimmte kohlenhydratreiche Lebensmittel auf meiner «Verbotsliste» standen, wurden meine neuen Ernährungsstrategien schnell zum Selbstläufer. Ich verlor die Kontrolle über die Kontrolle. Nie ging es mir darum, abzunehmen, weil ich mich zu dick fand. Vielmehr ging es mir darum, die Kontrolle wiederzuerlangen. Diese Kontrolle gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Dieses Gefühl fehlte mir durch den Tod meines Grossvaters und dem Mobbing. Für meine Mitmenschen wollte ich einfach nur noch unsichtbar sein.

Meine Eltern merkten schnell, dass mit mir etwas nicht stimmte. Nicht nur mein Aussehen veränderte sich, sondern auch meine Persönlichkeit. Vorher war ich ein Sonnenschein, habe viel gelacht und war ein fröhliches Kind. Aber mit der Krankheit wurde ich gefühlskalt, abgestumpft und Lügen waren meine ständigen Begleiter. Selbst meinen Liebsten tischte ich ein Märchen nach dem anderen auf, nur damit ich in Ruhe meine Essstörung ausleben konnte. Ich war nur noch mit mir beschäftigt. Ich zählte Kalorien und ass nur noch sehr wenig. Ich merkte, dass ich immer wie mehr eine Distanz zu all meinen Freunden und meiner Familie aufbaute. Aber ich liess mich von nichts und niemanden irritieren. Ich bekam so ein Machtgefühl, jeden Tag weniger zu wiegen und es zu schaffen, den ganzen Tag zu hungern. Immer wieder habe ich mir selber gesagt, dass ich kein Problem habe und irgendwann habe ich das auch geglaubt. Meine Eltern schleppten mich zur Psychologin und zur Akupunktur. Ich war aber nicht bereit, mir helfen zu lassen, denn meiner Meinung nach war ich nicht krank. Ich war davon überzeugt, dass das Problem nicht bei mir, sondern bei den anderen lag.

Jeden Freitag musste ich mich bei meinem Hausarzt wiegen. Der Arzt teilte mir mit, dass ich bei 34 Kilo in das Spital eingeliefert werde. Dies wollte ich natürlich nicht und deshalb fing ich an, mein Gewicht zu manipulieren. Am Tag, an dem sie mich wiegten, stand ich immer früher auf, um 2–3 Liter Wasser zu trinken. Das viele Trinken fiel mir schwer, aber ich zwang mich dazu. Als es zu anstrengend wurde, überlegte ich mir etwas Neues. Ich fing an, Blei in meinen Socken zu verstecken. Ich wog mich am Tag mindestens 10-mal. 36 Kilo bei einer Körpergrösse von 160 cm. Wenn ich schon nur ein Gramm mehr wiegte, war das für mich die Hölle. Aber wenn die Waage weniger als am Tag zuvor anzeigte, machte sich ein gutes Gefühl in mir breit. Stolz darauf, dass ich so diszipliniert war und alles unter Kontrolle hatte.

Als ich dann das Mindestgewicht von 34 Kilo erreichte, wurde ich ins Spital eingeliefert. Mir wurde gesagt, dass dies nun ein längerer Spitalaufenthalt sein wird. Aber ich belächelte die ganze Situation nur und dachte mir, dass ich in einer Woche wieder zu Hause sein werde. Von nun an sah ich meine Eltern nur noch einmal in der Woche. Sonst herrschte ein striktes Kontaktverbot. Bereits nach kurzer Zeit wurde mir bewusst, dass ich mich nicht wohlfühlte und ich reagierte dementsprechend darauf. Ich verzichtete komplett aufs Essen. Es gab Mittagessen. Ich ass nichts. Es gab Zwischenmahlzeiten. Ich ass nichts. Die Auswirkungen waren drastisch und ich nahm immer mehr ab. Auch dort wurde ein Mindestgewicht festgelegt. Ab 30 Kilo würde ich über eine Sonde künstlich ernährt werden. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, die spinnen. Nie und nimmer werde ich noch weitere 4 Kilo abnehmen. Als ich dann eines Tages auf der Waage stand und es noch 29.5 Kilo anzeigte, konnte ich es nicht glauben. Es war Fluch und Segen zu gleich. Ich wusste, ich musste nicht mehr essen, was für mich sehr erleichternd war. Dennoch hatte ich Angst, weil durch die künstliche Ernährung verlor ich die Kontrolle. Mit meinem 29 Kilo war ich nur noch Haut und Knochen. Mein Blick war düster und matt, mein Gesicht war blass und eingefallen. An den Armen und Beinen bekam ich sehr viele Haare. Fast wie ein Fell. Aber wenn ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich nicht, dass ich abgemagert und leblos aussah. Ich war zufrieden und fand, dass ich ganz normal wirkte.

Kurze Zeit später hatte ich eine schmerzende Nase, einen wunden Rachen und Tränen in den Augen. Alles war zerstört. Mein ganzer Kampf gegen das Gewicht war vergebens. Alles vernichtet. Mit einer Tat. Mit der Magensonde. Ich fühlte mich schlecht und machtlos. Zuzusehen, dass sie mich nun mit der Sonde mästeten und ich nichts dagegen tun konnte, wollte ich nicht hinnehmen. Deshalb überlegte ich mir etwas, um es zu manipulieren. Im Bastelraum des Spitals fand ich eine Spielzeugspritze. Da kam ich auf die Idee mit der Spielzeugspritze die Nahrung wieder aus dem Schlauch herauszuziehen. Nach jeder Essenzufuhr begab ich mich auf die Toilette und zog mit der Spritze das Essen wieder raus. Die Ärzte wussten, dass es rein physikalisch nicht möglich war, dass ich nicht zunahm. Sie wussten, dass ich es irgendwie manipulierte aber nicht wie. Deshalb klebten sie dann denn Schlauch zu. Aber auch das konnte ich noch manipulieren und sah es als kleinen Triumph an. Schlussendlich filzten sie mein Zimmer und fanden die Spritze. Zu diesem Zeitpunkt war mein Zustand bereits sehr schlecht. Mein zuständiger Arzt rief an jenem Abend meinen Vater an und teilte ihm mit, dass er nicht wisse, ob ich die Nacht überleben werde. Die Krankenschwestern weckten mich in der Nacht immer wieder auf und massen meinen Puls. Zusätzlich musste ich mich immer wieder hinsetzen, kurz aufstehen, um den Kreislauf in Schwung zu bekommen. Mit viel Glück überlebte ich diese Nacht. Ich war so schwach, dass ich kaum alleine aufstehen konnte. Aber auch nach dieser Nacht glaubte ich nicht, dass ich magersüchtig sei. Mein einziges Ziel war immer noch, nicht zu essen! Dieses Ereignis führte zu einem Krisengespräch mit den Ärzten und meinen Eltern. Nach meiner Bitte wurde ich dann in die Jugendpsychiatrie verlegt. Eine Bedingung dafür war, dass ich 33 Kilo erreiche. Da ich unbedingt aus dem Spital raus wollte, habe ich die Essenzufuhr über die Sonde über mich ergehen lassen.

Nach dem 10-wöchigen Spitalaufenthalt verlegten sie mich in eine Jugendpsychiatrie. Auch bei diesem Klinikeintritt teilten sie mir mit, dass es ein längerer Aufenthalt wird. Aber ich war noch bockiger als vorher und fand das ganze Theater um mich ziemlich lächerlich. Weiterhin verweigerte ich, zu essen und wurde weitere sechs Monate künstlich ernährt. Solange ich nicht selbst ass, durfte ich auch nicht nach Hause. Aus diesem Grund zögerte sich mein Aufenthalt immer mehr in die Länge. Ich kämpfte mit mir darum, Gabel um Gabel zum Mund zu führen und herunterzuschlucken. Ich ass nie viel. Zuerst eine Mahlzeit pro Tag und dann immer eine mehr. Es war ein langer Weg, bis ich endlich alle fünf Mahlzeiten selbstständig ass. In dieser Zeit fühlte ich mich oft fehl am Platz. An Gruppentherapien hörte ich anderen zu und dachte mir nur, dass dies doch krank sei. Aber dass ich selber auch so war, begriff ich nicht. Damals in der Gruppentherapie waren wir sieben Mädchen, alle im Alter von 12 bis 17 Jahren und alle litten an einer Essstörung. Heute leben nur noch drei davon. Ein Mädchen dieser Gruppe starb an den Folgen einer normalen Grippe. Ihre Organe versagten und sie starb mit 17 Jahren. Angst, Zweifel und Frustration stiegen damals in mir auf. Zum ersten Mal seit langem empfand ich wieder etwas. Ich wusste, dass ich mich jetzt ein für alle Mal entscheiden muss: Gehe ich denselben Weg wie sie oder fange ich an zu kämpfen?

Nach einem ganzen Jahr Spital und Jugendpsychiatrie Aufenthalt durfte ich endlich wieder nach Hause. Während des Aufenthaltes fühlte ich mich sehr oft alleine und hilflos. Aber dennoch auch stark. Stark, weil ich es unter Kontrolle hatte. Aber ich musste mir eingestehen, dass es zu nichts führte. Ich begann zu hinterfragen, ob ich ein solches Leben ein Leben lang führen wollte. Ob dies der Sinn meines Lebens ist. Als ich zuhause war, verlor ich gleich wieder ein paar Kilos. Aber es machte irgendwann klick. Ich wollte nicht auf mein ganzes Leben verzichten. Ich wollte wieder ins Restaurant gehen. Ich wollte wieder lachen. Ich wollte glücklich sein. Ich war so genervt und frustriert von mir selbst und der Magersucht, dass ich dieses Leben nicht mehr wollte. Also musste einer von uns beiden gehen, die Magersucht oder ich. Ich entschied mich dafür, dass die Magersucht gehen sollte. Denn ich wollte leben, lieben und glücklich sein.

Heute, neun Jahre danach, komme ich gut zurecht. Bin aber immer noch nicht zu 100 % gesund. Die Magersucht ist immer noch ein Teil von mir. Wie ein kleiner Schatten, der immer noch da ist und manchmal zum Vorschein kommt. Ich glaube fest daran, dass ich keinen Rückfall bekommen werde. Aber ich kann mir trotzdem vorstellen, dass gewisse Umstände dazu führen könnten. Noch heute, wenn ich Stress oder Sorgen habe, schlägt mir das direkt auf den Magen und ich kann kaum noch was essen. Nach wie vor ist meine Selbstwahrnehmung ein wenig gestört. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich mich nicht, wie andere mich sehen. Aber es gibt auch Tage, an welchen ich realisiere, dass ich gut bin, so wie ich bin. Diese Momente geben Hoffnung und stärken mich. Anderen Betroffenen würde ich raten, dass sie nicht warten sollen, sondern sich schnell Hilfe holen. Sonst hat die Krankheit Zeit, sich auszubreiten. Der Grat zwischen «ich habe abgenommen und bin glücklich» und «ich will mehr», ist sehr klein. Schnell rutscht man ungewollt in etwas hinein, aus dem man alleine nicht wieder herauskommt. Diese Krankheit ist viel zu ernst und schmerzhaft. Ich musste es am eigenen Leib erfahren und möchte alle davor bewahren, solch eine Krankheit zu haben. Nur zehn von 100 Magersüchtigen schaffen es, die Krankheit hinter sich zu lassen. Nur zehn von 100. Ich habe so viele gesehen, die Rückfälle hatten oder gestorben sind. Deshalb seid dankbar und glücklich, wenn ihr gesund seid. Egal ob ihr die Masse 90-60-90 habt oder statt einer XS eine Kleidergröße M oder L trägt.