Annika, 23

Ich habe Angst vor der Angst

Ich bin Annika. Ich leide an einer Zwangsstörung. Eine Zwangsstörung zeichnet sich durch irrationale Gedanken und Ängste aus, die zu zwanghaftem Verhalten führen.

Im Alter von 15 Jahren waren mir mein Ordnungszwang, Kontrollzwang und Zahlzwang zum ersten Mal bewusst aufgefallen. Ich kontrollierte in einer Endlosschleife, ob der Herd abgeschaltet war, ob Türe und Fenster verschlossen waren. War gezwungen Dinge zu zählen und zu wiederholen. Immer mit dem Hintergedanken, dass sonst was Schlimmes passieren könnte. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass dies bereits als psychische Störung angesehen wird.

Mit 21 Jahren gewann meine Zwangsstörung die Oberhand. Ich hatte grosse Angst, mich mit einer gefährlichen Substanz anzustecken und sie weiterzugeben, sodass sie sich dann weiterverbreitet und alles kontaminiert. Beim tatsächlichen oder auch vermeintlichen Kontakt mit Dreck oder Keimen bekam ich Panikgefühle. Um meine Angst vor Verunreinigung und Verschmutzung zu reduzieren, kam es dazu, dass ich nicht nur meine Hände blutig wusch, sondern auch alles andere wie verrückt putzte. Sofa, Regale, Fensterbretter und Küche wurden täglich abgestaubt, die Bettumrandungen wurden feucht gewischt und nachgewischt, die Badewanne wurde gescheuert, gespült, gescheuert und wieder gespült. Das Waschen und Putzen reduzierte kurzfristig meine negativen Emotionen und half mir, innere Spannungen abzubauen. Aber schon bald stellte sich das Gefühl, gefährdet und verunreinigt zu sein wieder ein. Und das Waschen und Putzen begann von vorne.

Samstags war jeweils mein Waschtag. Ich reservierte mir den ganzen Tag, damit ich genügend Zeit hatte. Der Wäschekorb war gefüllt mit Wäsche von der ganzen letzten Woche, weil ich mich jeden Tag zusätzlich mindestens einmal umgezogen hatte. Schon nur beim Gedanken, den Wäschekorb anzufassen, bekam ich Panikgefühle. Für mich brauchte es unglaublich viel Überwindung und Kraft, den Wäschekorb schlussendlich in die Hand zu nehmen. In der einen Hand hielt ich den Wäschekorb und in der anderen meinen Wohnungsschlüssel und Desinfektionsmittel. Ich musste besonders darauf achten, die verschmutze Seite nicht zu berühren. Wenn ich sie berührte oder auch nur das Gefühl hatte, konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nur nackte Angst, dass ich mich ansteckte und das unmittelbar etwas Schlimmes bevorstand. Ich musste zurück in meine Wohnung und mir die Angst gründlich abwaschen. Nach dem dritten Mal waschen, war ich erst beruhigt, dass meine Hände und Arme wieder sauber waren. Nun begann das Ganze von vorne. Wenn ich es dann tatsächlich in die Waschküche schaffte und die Wäsche in der Maschine hatte, fühlte ich mich sehr dreckig. Um die Angst, die in mir brodelte, loszuwerden, half nur sofortiges Duschen. Die alten Kleider fielen in den Wäschekorb und ich zog wieder frische Kleidung an. Meistens waren sie noch nass, aber immerhin waren sie sauber. Am Ende des Tages, nach sechsmal duschen, sechsmal neu anziehen, hatte ich fast genau gleich viel Wäsche wie am Anfang des Tages.

Die ganze Situation spitzte sich so zu, dass ich lieber nur noch zu Hause blieb. In meinen Gedanken waren die Küche, Bad, Wohnzimmer und Schlafzimmer kontaminiert. Weil ich vielleicht beim Putzen doch mal unachtsam gewesen war. Also verbrachte ich die Zeit fast nur noch in meinem Zimmer. Aber sobald ich aus dem Haus musste, rechnete ich dafür mindestens zwei Stunden ein. Ich kam aus dem Zimmer und sprang sofort unter die Dusche. Ritualhaft wusch ich meine Haare und meinen Körper dreimal und wenn ich schon nur ein wenig mit meiner Haut den Duschvorhang berührte, musste ich nochmals von vorne beginnen. Konnte ich mein Waschritual nicht fertig ausüben, bekam ich Herzrasen, Schweissausbrüche, Kurzatmigkeit und Schwindelgefühle. Um aus der Dusche zu steigen, öffnete ich mit einer Hand vorsichtig den Duschvorhang. Mit der anderen drehte ich sofort den Wasserhahn auf. Sobald ich aus der Dusche kam, musste ich meine Hände und Arme waschen. Dann fehlten nur noch frische Kleider. Anfassen durfte ich nur das Nötigste. Manchmal hatte ich auch zu viel Zeit. In diesen Momenten wartete ich einfach stehend in der Wohnung. Dadurch kam ich mit Nichts in Berührung, das verschmutzt war.

Zu dieser Zeit fragte ich mich oftmals, was ich auf dieser Welt noch mache, dass mein Leben nicht mehr lebenswert sei. Ich wollte mich wieder bewegen können, ohne darüber nachzudenken. Ich wollte wieder das Haus verlassen können, ohne umständlich zu planen. Ich wollte wieder richtig leben. Mir war bewusst, dass mit meiner Psyche etwas nicht stimmte und ich dringend Hilfe benötigte. Aber auch, wenn ich diese Erkenntnisse hatte, dachte ich, dass ich alles hinkriege. Mein Studium, die Zwangsstörung und die ambulante Therapie. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich mein Studium abbrechen sollte. Aber der Stress wurde immer grösser und die Zwangsstörung immer schlimmer. Nachdem ich einen heftigen Zusammenbruch erlitten hatte, vermutlich durch Erschöpfung, sah ich keinen Ausweg mehr. Mit meiner damaligen Psychologin entschied ich mich dazu, mich in eine Klinik einweisen zu lassen. Auch wenn die Vorstellung eines stationären Aufenthaltes für mich sehr schwierig war, sah ich es als letzte Chance an. In der Klinik wurde mir erst richtig bewusst, wie schlimm meine Zwangsstörung war. Bis dahin überspielte ich viele Situationen und redete mir selber ein, dass es nicht so dramatisch sei. Der Klinikaufenthalt war eine sehr anstrengende Zeit mit vielen Gruppen- und Einzeltherapien. Doch der Austausch tat gut und ich fühlte mich verstanden. Zusammen führten wir mehrere Expositionstrainings durch. Bei einer Exposition geht es darum, das Gefühl, in meiner Situation die Angst, einfach auszuhalten. Das Ziel ist es, zu erleben, dass die Angst mit der Zeit abnimmt und nichts Schlimmes passiert. Ich kann mich noch gut an eine Gruppentherapie erinnern, ich schwitzte so stark, als hätte ich intensiv Sport gemacht. Das Expositionstraining war wirklich hart, aber ich bewältigte die Angst, immer und immer wieder.

Nach dreimonatigem Aufenthalt konnte ich wieder nachhause gehen. Danach besuchte ich noch weitere vier Monate eine Tagesklinik. Das war eine sehr grosse Herausforderung, weil das bedeutete, dass ich am Morgen aus dem Haus musste. Das Ziel war es, am Morgen nicht mehr zu duschen, sodass ich mein Waschritual nicht durchführen musste. So konnte ich innert 20 Minuten das Haus verlassen. Natürlich ging das nicht von heute auf morgen. Es funktionierte schrittweise und zwischenzeitliche Rückschritte waren nicht zu vermeiden. Aber es gelang mir immer wieder und es ist unvorstellbar, wie gross diese Erleichterung für mich war. Meine Familie unterstütze mich in dieser Zeit so gut wie es ging. Es wurde ihnen verboten, auf meine dauernden Fragen, ob etwas schlimm sei, zu antworten. Auch auf meine Aufforderungen, etwas nicht anzufassen, durften sie nicht mehr eingehen. In dieser Zeit weinte ich sehr oft, weil mich die Angst so sehr quälte. Es wäre doch viel einfacher gewesen, wenn sie auf meine Aufforderungen eingegangen wären. Aber gleichzeitig verstand ich auch, dass es mir sonst nichts bringt. Unter der Situation litt meine Familie wie auch mein Freund sehr. Mich zu sehen, wie ich vor Wut in eine Wand hineinschlug und dann vor Erschöpfung in Tränen ausbrach, stelle ich mir heute sehr schwierig vor. Für meinen Freund war diese Zeit sicher auch sehr enttäuschend. Oft fragte er mich, ob wir gemeinsam etwas unternehmen wollen, doch ich hatte einfach keine Kraft mehr. Denn dies hätte bedeutetet, dass ich mein ganzes Waschritual durchgehen musste. In diesen Momenten brauchte es sehr viel Verständnis und das haben sie zum Glück alle gehabt.

Vor ein paar Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, dass es mir jemals wieder so gut geht. Aber ich lebe nun wieder, endlich. Nach wie vor gibt es schwierige Situationen in meinem Leben. Auch teilweise leichte Anzeichen von einer Zwangserscheinung. Da ich jedoch sehr intensiv daran gearbeitet habe, weiss ich, wie ich damit umgehen muss. Noch heute werde ich therapeutisch betreut. Je länger ich in Therapie bin, desto mehr schaffe ich es, den Mut zu fassen mich auf schwierige Situationen einzulassen. Es gibt mir ein unendliches Glücksgefühl, wenn ich etwas geschafft habe, was Minuten vorher für mich undenkbar schien. Manchmal gibt es sie: die Momente des Stolzes. In diesen Momenten habe ich die Hoffnung, dass ich eines Tages vor der Angst keine Angst mehr habe.