Südostanatolien – eine visuelle Reise in die Heimat meiner Eltern

Jedes Jahr zieht es mich zurück an einen ganz besonderen Ort – nach Südostanatolien. Seit nun fast 20 Jahren reise ich regelmässig in die Heimat meiner Eltern und Vorfahren. Enhil, ein christliches Dorf im Landkreis Midyat in der türkischen Provinz Mardin, ist für mich mehr als nur ein Reiseziel.
Es ist ein Ort der Natur und der Stille, weit entfernt vom hektischen Alltag in der Schweiz. Während dieser Zeit bin ich oft offline – keine Kamera, kein Handy, kein Internet. Oder versuche es zumindest so gut es geht ;). Viele meiner Freunde haben mich die letzten Jahre gefragt, ob sie mich dorthin begleiten dürfen und diesen besonderen Ort auch mal sehen könnten, von dem ich immer mit voller Begeisterung erzähle. Mit dieser visuellen Reportage möchte ich allen einen kleinen Einblick in eine andere Welt geben. Südostanatolien und die Provinz Mardin, eingebettet in die Region des historischen Zweistromlandes, birgt unzählige kulturelle und historische Schätze. Einige davon möchte ich in dieser Reportage zeigen.
Als Aramäer war es uns bis zur Jahrtausendwende über Jahrzehnte verwehrt, unsere Heimat zu besuchen. Die politische Lage in der Region war für Christen zu angespannt, um ohne Gefahr in unsere Provinz zu reisen. Umso mehr erfüllt es mich mit Freude und Dankbarkeit, heute einige dieser kostbaren Schätze zeigen zu dürfen.
Dieser Beitrag ist mehr als eine persönliche Erinnerung, sondern auch eine Einladung an alle, die Südostanatolien entdecken wollen.
Enhil – Das Dorf meiner Wurzeln
Enhil ist das Heimatdorf meiner Eltern – ein Ort, der seit über 500 Jahren von Aramäern bewohnt wird. Auf einem Hügel gelegen, mit weitem Blick über die Landschaft der Provinz Mardin, ist es nicht nur geschichtlich bedeutend, sondern auch für mich persönlich voller Erinnerungen und Bedeutung.
Das Leben in Enhil folgt dem Rhythmus der Natur. Wir schlafen auf den Dächern, unter freiem Himmel, oft mit nichts als dem Sternenzelt über uns. Am Morgen weckt uns die Sonne – ganz sanft, noch bevor ihre Kraft spürbar wird. Dann beginnt die Arbeit auf den Familienfeldern. Noch vor der grossen Hitze, die im Sommer oft über 40 Grad erreicht, ernten wir Feigen, Trauben und andere reife Früchte. Zum Frühstück sind wir zurück, während das Licht langsam intensiver und der Wind auf dem Hügel spürbar lebendiger wird.





Zwischen Spinnennetzen im Morgenlicht, reifen Früchten an alten Bäumen und den Spuren von Arbeit in staubigen Händen liegt die stille Schönheit Enhils verborgen. Diese Bilder zeigen nicht das Grosse, Spektakuläre – sondern das Echte, das Unverstellte. Sie erzählen von einem Alltag, der durch Nähe zur Natur und ein tiefes Verständnis für den Rhythmus der Jahreszeiten geprägt ist.
Diese Bilder zeigen eine Welt, die langsamer lebt – nicht rückständig, sondern bewusst. Eine Welt, in der die Verbindung zwischen Mensch, Erde und Zeit nicht verloren gegangen ist. Und vielleicht ist es genau das, was wir in unserer modernen Welt oft vermissen: den Blick für das Wesentliche im Einfachen.





Mor Gabriel – Ein Ort gelebten Glaubens
Das Kloster Mor Gabriel, auch bekannt als Dayro d-Mor Gabriel, wurde im Jahr 397 n. Chr. gegründet und zählt zu den ältesten noch aktiven christlichen Klöstern der Welt. Es liegt auf einem Hochplateau unweit von Enhil und ist nicht nur ein spirituelles Zentrum, sondern auch ein Symbol für die jahrtausendealte Präsenz der Aramäer in Mesopotamien.
Diese Bilder zeigen Details und Eindrücke aus dem Alltag im Kloster: kunstvoll gemeisselte Inschriften, historische Türme, stille Innenhöfe und die steinernen Spuren jahrhundertelanger Gebete. Mor Gabriel ist nicht nur ein Bauwerk – es ist ein lebendiger Ort des Glaubens, an dem die syrisch-orthodoxe Liturgie bis heute gepflegt und weitergegeben wird.





Einmal im Jahr, meist im Spätsommer, verwandelt sich der Innenhof des Klosters in eine Bühne der Gemeinschaft. Aramäer aus aller Welt pilgern dann nach Mor Gabriel, um gemeinsam dem heiligen Gabriel zu gedenken. Die Zeremonie beginnt mit dem Sonnenuntergang. Während die letzten Strahlen das Mauerwerk in warmes Licht tauchen, erklingen alte aramäische Hymnen. Geistliche in farbenprächtigen Gewändern führen durch das Ritual, begleitet von hunderten Gläubigen, die gemeinsam beten, singen und innehalten.

Hasankeyf – Ein versunkenes Erbe
Noch vor wenigen Jahren war Hasankeyf ein lebendiges Freilichtmuseum und über 12’000 Jahre durchgehend besiedelt. Bis vor wenigen Jahren lebten Menschen noch in Höhlen direkt im Fels. Historische Bauwerke, Höhlenwohnungen, Moscheen, alte Brücken und Kuppelbauten – alles getragen vom rauen Stein und der nahen Natur. Doch mit dem Bau des Ilısu-Staudamms wurde vieles davon überflutet. Ein grosser Teil des alten Hasankeyf liegt heute unter Wasser.
Der Damm war Teil eines grossen Infrastrukturprojekts und sorgte international für Kritik: wegen den zerstörten Kulturstätten, der mangelnden Transparenz und den politischen Spannungen, die die Umsiedlung begleitete. Hasankeyf wurde zum Symbol – für Verlust, aber auch für Widerstand und Erinnerung.
Diese Bilder zeigen Hasankeyf, wie es noch lebt – in den restaurierten Gebäuden, in der Landschaft rund um den neuen Ort, in kleinen Restaurants am Wasser, wo die Zeit langsamer vergeht. Sie zeigen eine Stadt, die versucht, ihre Seele zu bewahren, obwohl ihr Fundament verschwunden ist.






(vha)
Ich reise seit rund 20 Jahren regelmäßig in die Heimat meiner Eltern. Dieses Projekt war aber das erste Mal, dass ich versucht habe, diesen Ort bewusst gestalterisch aufzuarbeiten und ihn mit Text und Bild nach außen zu tragen. Es war spannend zu beobachten, wie sich mein Blick verändert, wenn ich nicht nur für mich fotografiere, sondern mit dem Gedanken, etwas zu erzählen.
Ich fotografiere schon lange mit Leidenschaft – über die Jahre hat sich dabei mein Auge für Bildaufbau, Licht und Stimmung geschärft. Für dieses Projekt habe ich mich auf das konzentriert, was mir wichtig war: echte Momente, natürliche Farben, keine Inszenierungen. Ich wollte zeigen, wie es sich anfühlt, dort zu sein – nicht nur, wie es aussieht.
Im Nachhinein würde ich einiges klarer strukturieren: die Textarbeit früher beginnen, die Bilder stärker auswählen, mehr Raum lassen. Teilweise habe ich mich schwergetan, zwischen persönlicher Nähe und dokumentarischer Distanz die richtige Balance zu finden.
Trotzdem bin ich sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Es ist kein perfekter, aber ein ehrlicher Einblick – und das war mir am wichtigsten.