"Die Situation, das Leben oder wer auch immer ist das Arschloch. Nicht ich."

Interview

Responsive image

David Naef, Geschäftsführer Caprez Bestattungen in Chur

David Naef ist studierter Philosoph und gelernter Landwirt. Beides erfüllte den 33-jährigen nicht. Seit drei Jahren arbeitet er als Bestatter, zuerst in Bern jetzt in Chur. Im Interview erzählt er von Totenstarre, schlechten Abschieden und vom Dilemma des Bestatters.

SG: David, wie läuft ein Tag bei dir als Bestatter ab?

DN: Kein Tag ist gleich. Das heisst, wir kommen morgens ins Büro und wissen nicht, was uns erwartet. Früh am Morgen um 8 Uhr läuft meistens noch nicht viel. Dann nehmen wir uns Zeit für einen Kaffee. Das ist wichtig, weil wir viel Spezielles erleben. Beim Kaffee haben wir die Gelegenheit darüber zu sprechen. Für mich gehört das ein bisschen zum Job dazu. Es gibt auch Phasen, in denen wir so viel zu tun haben und kaum Zeit zum Essen finden. Also soll es auch andere Momente geben, in denen wir abschalten können.

Wir müssen sehr viel organisieren. Das heisst, wenn gerade nichts los ist, sind wir im Büro und arbeiten dort unsere Aufgaben ab. Dann ruft uns jemand an, der gerade einen Angehörigen verloren hat. Wir nehmen dann die Daten entgegen, beraten die Menschen ein erstes Mal, damit sie beruhigt sind und wissen, was jetzt auf sie zukommt.

Danach machen wir einen Termin ab. Meistens haben wir ein bis zwei solcher Beratungsgespräche am Tag. Im Anschluss an die Gespräche beladen wir das Bestattungsfahrzeug mit einem Sarg und fahren an den Ort, an dem die Person verstorben ist und überführen sie meistens ins Krematorium.

Fakt: In der Schweiz werden 85% der Verstorbenen kremiert.
(Zahl vom Jahr 2015, Quelle: Schweizerischer Verband für Feuerbestattungen)

Deshalb kann man nicht genau sagen, wie ein Tag aussieht. Wir arbeiten dann, wenn es was zu tun gibt. Manchmal auch unmittelbar, wenn die Polizei anruft. Dann lassen wir alles stehen und liegen und machen uns sofort auf den Weg.

SG: Wie ist es für dich, wenn du eine tote Person berührst oder sie wäschst. Ist das nicht komisch?

DN: Ich habe es früher, als ich erst seit Kurzem Bestatter war, seltsam gefunden verstorbene Personen zu berühren. Es ist auch etwas Spezielles. Erstens wegen der Totenstarre. Zweitens ist der Tod auch immer ein bisschen mystisch. Drittens ist der Körper nicht mehr 36 bis 37 Grad warm. Auch wenn der Körper nicht gekühlt ist, ist er eben doch nur um die 20 Grad wie die Umgebung und das empfinden wir als kalt.

Man gewöhnt sich aber natürlich an das. Wenn man so etwas länger macht, dann ist das für einen sehr normal – was es im Endeffekt auch ist.

"Es ist normal, tot zu sein."


Erstaunlicherweise haben wir im Normalfall mit den Verstorbenen gar nicht so viel zu tun. Meistens stirbt die Person im Altersheim. Dort werden die Verstorbenen vom Pflegepersonal schön gemacht. Wir betten sie eigentlich nur in den Sarg ein. Das ist der einzige Kontakt, den wir haben.

Es gibt aber natürlich auch andere Fälle, wenn wir zum Beispiel jemanden aufbahren, selber anziehen oder sogar selber bergen müssen. Das kann an einem Unfallort oder Zuhause sein. Dann ist der Kontakt intensiver. Es kann auch mal sein, dass jemand geblutet oder erbrochen hat. Dann müssen wir die Person natürlich waschen.

SG: In unserer Gesellschaft ist der Tod eher ein Thema, das man vermeidet. Wieso wolltest du Bestatter werden?

DN: Das sage ich natürlich erst im Nachhinein, aber der Moment vom Tod stellt für mich ein Spiegel des Lebens dar. Deshalb ist es ein sehr sensibler und heikler Moment, der gleichzeitig eine grosse Bedeutung hat. Es ist eine Feier, wie beispielsweise eine Hochzeit. Klar, es ist nicht dasselbe, aber es ist doch ein entscheidender Moment im Leben von einem Menschen. Vor allem auch für die Menschen, die zurückbleiben.

Wenn jemand seine Mutter verliert, ist das ein entscheidender Moment. Dann kann ich sehr viel beeinflussen und den Menschen Gutes tun. Das ist es, was mich an diesem Beruf interessiert: die Menschen in diesem Moment zu begleiten.

SG: Was ist bis jetzt das Schlimmste, das du im Beruf erlebt hast?

DN: Das Schlimmste ist für mich der unmittelbare Tod von jungen Menschen. Das kann wegen einem Unfall sein oder weil jemand Selbstmord begeht. Dann komme ich mit den Eltern in Kontakt und spüre ihre Verzweiflung. Das finde ich sehr schlimm. Das tut mir jedes Mal leid. In diesen Fällen muss ich mir dann selbst immer sagen, dass ich nicht Schuld bin. Ich darf die Verantwortung nicht auf mich nehmen.

Manchmal habe ich eben dieses Gefühl. Wenn alle traurig sind und ich die Situation tragen muss. Dann sage ich mir, dass ich die Situation zu verbessern versuche und für die Leute da bin. Die Situation, das Leben oder wer auch immer ist das Arschloch. Nicht ich.

"Bei mir ist vielmehr eine Wertschätzung des Lebens entstanden."

SG: Wie oft kommst du am Abend nach Hause und denkst über diese schweren Fälle nach?

DN: Erstaunlicherweise kann ich sehr gut abschalten. Das heisst, wenn ich mit den Leuten zusammen bin, kann ich mich auf sie einlassen und mir tut es leid, was passiert ist. Das macht mich selber auch traurig. Aber wenn ich nach Hause gehe, ist das weg. Ich muss eigentlich nie darüber nachdenken.

Klar, es gibt Tage, an denen ich abends nach Hause komme und zu meiner Frau sage, dass es viele schlimme Sachen gibt und dass wir froh sein können, dass wir noch leben. Aber das ist für mich mehr eine Qualität, weil ich diese Sorgen glücklicherweise im Moment nicht habe. Bei mir ist vielmehr eine Wertschätzung des Lebens entstanden.

SG: Was muss ein Bestatter mitbringen, um diesen Beruf auszuführen?

DN: Ein Bestatter muss vielseitig begabt sein. Wir sind Handwerker, müssen aber aussehen wie Bänker. Wir sind auf der einen Seite an schönen Orten unterwegs, zum Beispiel in Kirchen. Das sind sehr ehrwürdige Momente. Auf der anderen Seite gibt es noch die Momente, wo man im Dreck, im Blut ist. Darum muss man vielseitig sein. Man muss vieles organisieren können. Ich muss die Gespräche leiten können, die eine empathische Komponente haben. Ich muss ihnen die Freiheit geben, selber zu entscheiden. Gleichzeitig muss ich das Gespräch führen, sonst artet es immer aus. Ich muss im Hintergrund immer einen Grundplan haben, obwohl es immer um Emotionen geht. Darum muss man recht vielseitig sein.

SG: Bist du der Meinung, dass sich die Gesellschaft mehr mit dem Thema Tod auseinandersetzen sollte?

DN: Ich finde, dass es eine Qualität ist, wenn man sich im Vornherein damit auseinandersetzt. So erhält man Zugang zu seinen eigenen Bedürfnissen. Man weiss dann, was einem wichtig ist, wenn man selber geht. Noch wichtiger ist es, wenn man jemanden verliert, dass man sich verabschiedet.

Heute ist es möglich, dass man diesen Abschied an sich vorbeiziehen lassen kann. Man kann uns anrufen, dann ist es das gewesen. Dann hat man keinen Abschied. Es gibt Leute, die das machen. Ich bin aber davon überzeugt, dass das den Menschen nicht guttut. Vor mir aus gesehen, gibt es nur einen schlechten Abschied und das ist kein Abschied. Sonst kann man machen, was man will.

"Gefasst sein, ist eigentlich falsch."

SG: Ist das denn eine Kulturfrage, dass sich die Leute unterschiedlich verabschieden?

DN: Ja, das ist eine Kulturfrage. Männer weinen ja quasi nie. Die Frauen weinen jeweils bei unseren Gesprächen auch nicht. Das kommt mehr, wenn sie zum Beispiel einbezogen werden. Wenn sie helfen oder den Verstorbenen Blumen in die Hand legen. Dann wird es erlebbar für die Leute und sie beginnen zu weinen.

Vorher sind sie immer recht gefasst und das ist eigentlich falsch. (lacht) Gefasst sein, ist eigentlich falsch. Man muss es leben. Die Trauer ist eine Wellenbewegung: man kann traurig sein und gleichzeitig lachen. Das geht alles. Ich finde, die Bestattungskultur sollte sich dahin entwickeln, dass sie die Leute so leben können, wie es ihnen guttut. Egal wie.

SG: Als Bestatter bist du 24 Stunden am Tag erreichbar. Schränkt dich das in deiner Freizeit ein?

DN: Ja, klar. Wenn ich arbeite, dann arbeite ich 24 Stunden lang. Dann gehe ich beispielsweise nicht schwimmen oder wandern, weil ich dann mein Handy nicht dabeihabe. Ich muss hier in Chur bleiben und das schränkt schon ein.

SG: Wäre das ein Grund um zu sagen: diesen Beruf mache ich nicht bis zu meiner Pension?

DN: (trinkt einen Schluck Tee) Ich denke, ich mache es bis zu meiner Pension. Ich finde, dass es nur dann schlimm ist, wenn ich zu wenig Zeit zum Kompensieren habe. Wenn ich viel arbeiten würde und nur zwei Tage frei hätte. Bei uns ist das nicht so. Bei uns haben die Leute drei Tage pro Woche frei. Wenn man aber arbeitet, dann ist man hier. Das passt zu unserer Arbeit. Man ist voll und ganz für die Leute da. Es ist überhaupt kein «nine to five» Job. Und dafür habe ich ziemlich viel frei.


hoch