Die Gassenküche schliesst ihre Türe für heute. Wo gehen nun die hin, die kein Zuhause haben? Die Regelung ist klar: Um acht Uhr abends schliesst die Gassenküche und die Gäste müssen gehen. Wer wohin geht, weiss niemand. Im Vorfeld sind wir davon ausgegangen, dass wir viele Gäste aus der Gassenküche in der Notschlafstelle wieder antreffen werden. Wie wir aber noch erfahren sollten, hatten wir uns wieder einmal getäuscht.

Nachdem wir in der Gassenküche einen Einblick erhalten durften, können wir nun nach oben gehen in die Notschlafstelle. Wir dürfen bereits kurz nach acht Uhr in die Notschlafstelle, obwohl diese erst um zehn Uhr geöffnet wird. Da wir sowieso schon in der Gassenküche sind, dürfen wir die Treppe die direkt von der Gassenküche zum Schlafplatz führt, benutzen. Die Schlafstelle hat einen eigenen Eingang. Dieser ist zwar im gleichen Haus wie die Gassenküche aber auf der gegenüberliegenden Seite.

Wir stehen nun in einem langen und schmalen Gang. Die Wände sind rot gestrichen. Eine Frau begleitet uns in die Notschlafstelle. Sie hat ganz bunte Dreadlocks und sie kleidet sich wie ein Punk. Wir sind etwas verunsichert, wieso Ueli nicht mit uns kommt. Hatten wir doch erst gerade eine Verbindung mit ihm aufgebaut und er war endlich lockerer geworden in unserer Umgebung. Nun steht wieder jemand total fremdes vor uns. Doch als sie uns mit ihrem breiten Lächeln begrüsst, verfliegt die Unsicherheit schon etwas. Als Erstes zeigt sie uns die Küche. „Hier können die Sleeper noch etwas kochen aber nur Sachen, die sie selbst mitgebracht haben. Wir stellen hier oben keine Lebensmittel zur Verfügung. Nur das Frühstück ist inbegriffen“, sagt die Frau zu uns. „Mama komm mal kurz ins Büro“, ruft eine Stimme. Wir sind verwirrt. Wer ist Mama? Hat es hier etwa Kinder? Zu unserem Erstaunen, entschuldigt sich die Frau und geht ins Büro. Ach so, sie ist also „Mama“. Wieso sie alle so nennen, wissen wir bis heute nicht. Da sie aber mit allen so liebevoll umgeht, denken wir sie hat die Mamarolle in diesem Haus. Ausserdem ist eine von denen, die schon am längsten dabei ist.

Mama führt uns nun ins erste Zimmer. Wie wir erfahren, gibt es drei Zimmer: das Ausländerzimmer, das Schweizerzimmer und das Frauenzimmer. Nun hat sich auch Ueli zu uns gesellt. Die drei Zimmer sind alle gleich aufgebaut. In den beiden Männerzimmer hat es jeweils drei Kajütenbetten und noch jeweils zwei zusätzliche Matratzen, die im Notfall auf dem Boden ausgelegt werden können. „Da ich kein Arschloch bin, lasse ich schon mal einen Mann mehr im Zimmer schlafen. Das ist aber eine Ausnahmesituation und am nächsten Abend lasse ich das nicht mehr durchgehen“, erzählt uns Ueli. Das Ausländerzimmer und das Schweizerzimmer sind zwar genau gleich aufgebaut, es gibt aber einen Unterschied. Kein Ausländer darf im Schweizerzimmer übernachten und umgekehrt. Das ist eine strikte Regel von Ueli. „Auch wenn es im Schweizerzimmer noch ein Bett frei hat und ein Rumäne an die Tür klopft, lasse ich ihn nicht im Schweizerzimmer schlafen. Da darf er noch eher eine Matratze ins Ausländerzimmer legen“. Als wir nach dem Grund fragen, bekommen wir eine klare Antwort. Wir seien hier immer noch in der Schweiz und es kann nicht sein, dass ein Schweizer keinen Schlafplatz hat, nur weil Ueli die ganze Notschlafstelle an „eine Horde von Eritreern“ vermietet hat. Harte Worte für uns, doch irgendwie auch nachvollziehbar.

Nun kommen wir ins ins Frauenzimmer. Das Frauenzimmer ist etwas kleiner als die Männerzimmer. Hier stehen ebenfalls drei Kajütenbetten aber es hat keine zusätzlichen Matratzen. In diesem Zimmer dürfen maximal sechs Frauen sein, da das Zimmer kleiner ist. Ueli lässt niemals einen Mann ins Frauenzimmer, unter gar keinen Umständen. Ausnahmen gibt es nicht. „Egal wie anständig ein Typ scheint, er hat nichts im Frauenzimmer zu suchen!“. Für fünf Franken bekommt man in der Notschlafstelle zwar keine Suite mit Meeresblick, aber man hat zumindest für eine Nacht einen sicheren und warmen Schlafplatz.

Unter fast allen Betten liegen Plastiksäcke mit persönlichen Gegenständen. Obwohl eigentlich niemand länger als zwei Nächte bleiben darf, liegen trotzdem persönliche Gegenstände in den Zimmern. Ueli ist dies zwar nicht wirklich recht, er lässt es aber durchgehen. Trotzdem: Langzeitaufenthalte gibt es hier nicht.

Nachdem wir alle Zimmer und die kleine Küche nun gesehen haben, gehen wir in einen weiteren Raum. Wir sehen uns um und für uns ist klar was das hier ist: der Aufenthaltsraum. Mama belehrt uns aber eines besseren. „Das hier ist unser Büro“. Niemand von uns sagt etwas. Aber wir alle denken das gleiche. Das hier ist doch kein Büro. Es herrscht ein neonfarbiges Licht, eine grosse Unordnung und einen Schreibtisch sehen wir auch nicht. In dem mittelgrossen Raum stehen zwei Sofas, ein Tisch, ein Fernseher, ein Kühlschrank und ein Bett. In diesem Raum haben Gäste nichts verloren. Obwohl Mama und Ueli beide von einem Büro sprechen, denken wir es sei eher ein Rückzugsort für die freiwilligen Arbeiter.

Wir gehen wieder durch den schmalen Gang und kommen ins „Badezimmer“. Das Badezimmer besteht aus einem Urinal, einer Dusche und einer Toilette. „Alle die hier übernachten, müssen zuerst duschen gehen, darauf bestehen wir. Ihr habt ja gesehen wie klein die Zimmer sind. Wisst ihr wie unagnehm das ist, wenn dein Bettnachbar stinkt? Es ist kaum auszuhalten. Deswegen müssen alle duschen gehen, egal wie betrunken oder zugedröhnt sie sind“. Wir sind verblüfft, dass die Notschlafstelle doch sehr auf eine gewisse Grundhygiene achtet. Dies hatten wir so nicht erwartet. Wir gehen noch in einen weiteren kleinen Raum: die Wäscherei. Hier werden täglich alle Bettbezüge gewaschen. Es stehen zwei riesige Maschinen vor uns. Ueli wirkt fast ein wenig stolz als er uns von den zwei neusten Anschaffungen des Hauses erzählt. „Die Maschinen hat sich der Verein erst gerade letztes Jahr gegönnt“.

Es ist halb zehn. Um zehn Uhr wird die Notschlafstelle öffnen und dann bis ein Uhr morgens ihre Türen offen haben. Solange können die Sleeper hier „einchecken“. Am nächsten Tag müssen alle spätestens um zehn Uhr wieder gehen. Ein kleines Frühstück gibt es noch und dann müssen sie wieder auf die Strasse. Tagsüber darf nämlich niemand in der Notschlafstelle sein. Es gibt aber eine Ausnahme: Am 24 und 25. Dezember hat die Notschlafstelle auch tagsüber offen. „Es ist arschkalt und alles hat geschlossen. Ich bin kein Unmensch. An diesen zwei Tagen dürfen sie drinnen bleiben", so Ueli.

Wir haben gerade noch Zeit einige Fragen zu stellen. „Musstest du auch schon mal jemanden ablehnen?“. „Ja fast jede Nacht und das mit Vergnügen“. Wenn jemand zu betrunken oder aggressiv ist, lehnen wir ihn ab. Aber auch wenn ich sehe, dass hier mit Drogen gedealt wird, schmeisse ich sie liebend gerne hochkant raus. Natürlich kommt es auch vor, dass wir einfach überbelegt sind und ich deswegen Leute ablehnen muss. Dies tut mir dann auch leid, aber wir haben nun mal so viel Platz wie wir haben“. Es gibt noch etwas, dass Ueli nicht toleriert. Er lehnt Leute ab, die gerade erst ihren Entzug begonnen haben. „Zombies kann ich nicht gebrauchen“. Über diese Aussage sind wir erstaunt. Genau diese Leute sollte man doch unterstützen. Ueli erklärt uns aber nochmals, dass sie keine Sozialarbeiter sind. Sie haben zwar ein offenes Ohr für alle aber solchen Leuten können sie auch nicht helfen. Ueli leitet solche Personen an die passenden Stellen weiter und unterstützt sie auf diese Weise.

Nun ist es an der Zeit für uns zu gehen. Die Menschen hier haben sowieso schon so wenig Privatsphäre, da kann Ueli uns hier nicht auch noch gebrauchen, wie er uns sagt. Wir verabschieden uns und können Ueli sogar ein Lächeln abbringen. Der grosse grimmige Mann vom Anfang des Tages, lächelt uns nun zum Abschied zu. Er hat zwar eine harte Schale aber ganz tief drinnen einen weichen Kern. Als wir die Türe verlassen, stehen schon die ersten Sleeper bereit. Wir erkennen nur ein oder zwei Gesichter von der Gassenküche wieder, alle anderen sind uns fremd.

Auf dem Nachhausweg sprechen wir nicht mehr viel zusammen. Es war eine Erfahrung, die wir wohl so schnell nicht wieder erleben werden. Wir haben einen tieferen Einblick erhalten, als wir es zu Anfang gedacht haben. Jede verarbeitet die gesammelten Eindrücke selber und macht sich ihre Gedanken. Im Gegensatz zu der Gassenküche ist die Notschlafstelle nicht so familiär. Hier will jeder für sich sein und seine Ruhe haben. Es ist zwar kein Zuhause aber zumindest haben sie hier ein Dach über dem Kopf.