Wir stehen vor der Treppe und blicken hinauf zum Eingang. Was wird uns wohl erwarten? Wer wird uns erwarten? Niemand von uns ist schon mal dort gewesen oder hat sich genauer darüber informiert. Wir wagen sozusagen den Sprung ins kalte Wasser. Bei der Ideenfindung waren wir noch sehr zuversichtlich. Keine von uns dreien hat sich tiefgründige Gedanken dazu gemacht, was auf uns zukommen könnte. Die Idee hatte uns gepackt und wir waren enthusiastisch.

Nun da wir so vor dieser Treppe stehen, kommen erstmals Bedenken auf. Wie gehen wir vor? Was ist hier die beste Vorgehensweise? Diese Fragen hatten wir uns bis dato noch nicht gestellt. Absichtlich hatten wir so wenig Material wie nur möglich dabei. Kamera sowie Aufnahmegerät hatten wir in der Tasche verstaut um unser Gegenüber nicht sofort zu verscheuchen. Noelia traut sich als Erste zum Eingang hinauf, während die anderen zwei noch unten an der Treppe warten. Der Eingang ist mächtig und wirkt nicht sehr einladend. Noelia sieht einsam und winzig aus vor dieser riesigen Metalltüre. Sie klopft. Nichts. Sie klopft nochmals, wieder nichts. Sie findet keine Klingel, nur einen Lichtschalter. Oder wir dachten zumindest, dass es ein Lichtschalter sei. Verunsichert schaut sie uns an. „Komm wir gehen auch hoch“, sagt Fatbardha. Nun wagen auch sie sich zur Türe hinauf. Auf halbem Weg, reisst jemand die Türe auf. „Oh mein Gott“, kreischt Noelia. „Hier ist nicht Gott“, sagt eine tiefe Stimme. Ein grosser, grimmiger Mann steht vor uns. Er zieht die Türe wieder ein wenig zu und sieht uns nur durch einen Spalt hindurch an. „Wir würden gerne zur Gassenküche, sind wir hier richtig?“. „Wer will das wissen?“, fragt der grosse Mann zurück. „Wir sind drei Studentinnen der Berner Fachhochschule für Multimedia Production und würden gerne einen Beitrag über die Gassenküche machen“. „Nun dann kommt mal rein“, sagt er wenig begeistert.

Leicht eingeschüchtert folgen wir dem Mann in die Gassenküche hinein. Wir betreten einen düsteren Raum. Er ist nicht sonderlich gross und der erste Blick fällt auf eine Theke. Verwirrt blicken wir uns an. So hatten wir uns die Gassenküche definitiv nicht ausgemalt. Wir haben gedacht, die Gassenküche sei grösser und heller. Auch den Mann, welcher uns die Türe aufgemacht hat, haben wir uns anders vorgestellt. Wir haben uns das Ganze mehr als Institution mit Sozialarbeitern vorgestellt. Dieses Bild ist aber mit einem Schlag weg. „So nun sagt mir nochmal was ihr genau wollt“. „Wir würden gerne zeigen was die Gassenküche und die Notschlafstelle sind. Was hier genau passiert und wie die Stimmung ist“. Er entschuldigt sich zuerst einmal für sein Verhalten. Es tue ihm leid habe er so harsch reagiert, als er die Türe geöffnet hat. Er liefert aber auch gleich eine Erklärung für sein Verhalten. „Um die Weihnachtszeit herum, werden plötzlich alle Menschen zu Gutmenschen und jeder will helfen. Ist ja schön und gut, aber ich kann diese Leute nicht ertragen, die einfach nur weil Weihnachten vor der Türe steht ihr Gewissen bereinigen wollen. Deswegen habe ich so reagiert. Momentan klingelt es mehrmals pro Tag an der Türe und jeder will irgendetwas abgeben, was ich gar nicht gebrauchen kann“.

Er schaut auf die Uhr und schaut wieder uns an. Wir hoffen, dass wir bleiben können aber wir können seinen Blick nicht deuten. Will er uns hier haben? Irgendwann müssen wir ihm noch beichten, dass wir Fotos und Tonaufnahmen brauchen. Fatbardha nimmt langsam die Kamera aus der Tasche und sieht ihn an. „Wäre es für dich in Ordnung, wenn wir Fotos und Tonaufnahmen machen? Wir brauchen diese für unsere Reportage“. Er sieht nicht gerade begeistert aus. Nickt dann schlussendlich aber mit der Anmerkung, dass weder er noch die Gäste fotografiert werden, sonst werden wir rausgeschmissen. Stefanie übernimmt das Fotografieren und nimmt den Raum genauer unter die Lupe jedoch vorsichtig. Sie tastet sich nur langsam vorwärts, da sie den Mann unter keinen Umständen verärgern will. Er wirkt so, als könne man ihn leicht reizen. Die anderen zwei bleiben an der Theke sitzen. „So dann lasst uns mal über die Gassenküche sprechen. Ach und übrigens ich heisse Ueli.“ Noelia und Fatbardha stellen sich ebenfalls vor. „Wir können gerne über die Gassenküche sprechen aber ich muss gleichzeitig kochen. Sonst werde ich mit dem Essen nicht fertig.“ Noelia und Fatbardha schauen auf die Uhr. „Wann öffnet denn die Gassenküche?“ Ueli ruft von der Küche aus, dass die Gassenküche von sechs Uhr bis acht Uhr abends offen habe. Es ist erst kurz nach drei Uhr. Wieso fängt er jetzt schon an zu kochen, wenn die Küche erst in drei Stunden öffnet? Bald werden wir den Grund erfahren.

Ueli holt das Gemüse aus der Küche. Karotten, Brokkoli, Zwiebeln, Pilze und Lauch liegen vor uns auf der Theke. Der fährt aber ganz schön was auf für eine Mahlzeit, denken wir uns im Stillen. Er nimmt das Gemüse und schnipselt wild drauf los. Es sieht wirklich professionell aus und deswegen fragen wir ihn auch, ob er Koch sei. Er schüttelt den Kopf, er macht dies nur aus Freude am Kochen. „Ja bist du in dem Fall Sozialarbeiter?“. „Himmel nein“, sagt er lachend und nimmt ein Schluck von seinem Bier. Als wir ihn uns genauer ansehen merken wir, dass wir uns diese Frage hätten sparen können. Er steht in seinem dreckigen Pyjamahose und einem ebenso verdreckten Pullover da. Auch seine Art sich auszudrücken, lässt darauf schliessen, dass er selbst nicht den leichtesten Weg hinter sich hat. Schon nach kurzer Zeit ist das ganze Gemüse geschnitten. „Für wie viele Leute kochst du denn eigentlich?“. „Ich koche eigentlich jedes Mal für so circa 25 Leute und wenn ich sehe, dass es noch mehr braucht, dann koche ich gerne auch noch mehr“. Während er die Brokkoli-Suppe vorbereitet, erzählt uns Ueli, dass die Gassenküche Spenden von der Schweizer Tafel erhalte. Vor allem Gemüse und Früchte bringen sie oft vorbei. Fleisch sei eher selten. Doch heute habe er eine Ziegenwurst von der Tafel bekommen, welche er gleich zum Salat servieren werde. Suppe und Salat? Wird es mehrere Gänge geben? Wir fragen nach dem Preis für eine Mahlzeit. „Hier zahlt man fünf Franken für eine warme und leckere Mahlzeit“. Nachdem er die Suppe und den Salat fertig gemacht hat, beginnt er mit der Hauptspeise. Es gibt Omeletten gefüllt mit Hackfleisch und Gemüse. Obwohl die Gassenküche Spenden von der Tafel erhält, kauft Ueli jeden Tag noch selber für hundert Franken ein. „So einen leckeren Käse gehört für mich einfach zu einem Salat dazu und das gönne ich mir dann auch“. Wieder einmal merken wir, dass wir uns die Gassenküche falsch vorgestellt haben. Wir alle hatten mehr ein Bild von einer Kantine im Kopf, ein bisschen so wie man es aus dem Fernsehen kennt.

Wir blickten wieder auf die Uhr und es war schon halb sechs. In einer halben Stunde würden die Gäste kommen. Wir waren gespannt, wie sie wohl sein werden. Wie die Stimmung sein wird und ob wir akzeptiert werden oder ob wir eher als Störenfriede angesehen werden. Ueli spricht mittlerweile auch über persönliche Dinge aus seinem Leben. Er wird immer lockerer und die ganze Situation ist längst nicht mehr so angespannt wie am Anfang. Ueli macht nun noch eine Mango-Crème für das Dessert. Wir sind baff. Für nur fünf Franken erhält man in der Gassenküche ein 4-Gang-Menu.

Kurz nach sechs Uhr treffen dann auch schon die ersten Gäste ein. Nun ist auch der Moment gekommen an dem wir das Aufnahmegerät ausschalten. Schnell findet sich in der Gassenküche ein buntes Publikum ein. Von jung bis alt, egal ob Mann oder Frau. Erneut hatten wir ein falsches Bild vom Publikum im Kopf. Wir hatten eher, so hart es auch klingt, Drogenabhängige und Obdachlose erwartet. Ueli merkt wohl, dass wir verwirrt sind. „Hier kommen die Leute hin, die noch nicht ganz unten angekommen sind. Wir spielen hier nicht Sozialarbeiter. Menschen kommen hierhin, weil sie eine leckere Mahlzeiten für einen kleinen Preis haben wollen“. Schnell merken wir, dass sich hier alle kennen. Jeder bergüsst jeden und auch uns begrüssen sie freundlich. Es herrscht eine Art familiäre Atmosphäre. Von sechs Uhr bis acht Uhr steht die Türe halb offen, während sie davor geschlossen waren. Mittlerweile haben wir auch bemerkt, dass der „Lichtschalter“ draussen an der Türe kein Lichtschalter ist, sondern die Klingel. Jedes Mal wenn jemand hinein kommt und die Klingel drückt, leuchtet eine rote Lampe auf. Obwohl nicht viel gesprochen wird, ist die Stimmung angenehm. Wir setzen uns zu den Gästen dazu und unterhalten uns. Sie fragen wer wir sind und was wir machen. Wir sprechen über alles Mögliche mit ihnen. Es wird gelacht und gegessen. Alle loben das Essen und obwohl es Ueli sich nicht anmerken lässt, merken wir, dass er das Lob zu schätzen weiss. Die Gäste laden uns schon wieder für die nächste Woche ein. „Kommt doch mal wieder vorbei und esst hier mit uns“. Um acht Uhr abends schliesst die Gassenküche ihre Türe. Wohin die Gäste nun gehen, weiss niemand ausser sie selbst. Morgen um genau sechs Uhr wird die Gassenküche wieder öffnen und Ueli wird in der Küche stehen.

In der Gassenküche spielt es keine Rolle wer du bist oder woher du kommst. Dich erwartet hier eine warme Mahlzeit und ein offenes Ohr. Manchmal zählt ein offenes Ohr mehr als das Essen. Die Gassenküche bietet einen Rückzugsort, wo Bekannte zu Familie werden.