HANDICAPPED

 

 Wie wählt ein Blinder seine Kleidung aus?

Wie fragt ein Stummer nach dem Weg?

Wie merkt ein Tauber, dass der Wecker klingelt?


Für Menschen mit einer Behinderung werden alltägliche Situationen zu grossen Herausforderungen. Wir möchten am eigenen Leib erfahren, wie sie diese Aufgaben meistern.

Dazu haben wir das Projekt Handicapped ins Leben gerufen. Einen Tag lang werden wir in die Haut eines Blinden, Tauben und Stummen schlüpfen und unseren Alltag auf seine Weise bewältigen. Begleitend dokumentieren wir unsere Erfahrungen auf dieser Seite mit Text, Bild und Video.

„Die grösste Herausforderung für

mich wird sein, den Weg im Dunkeln

zu finden, und dass ich mich voll

und ganz auf jemanden verlassen kann, der mich führt.“
Angela, blind

„Für mich wird es schwierig sein, Gesprächen, vor allem in Gruppen, folgen zu können. Ich muss mich voll

und ganz auf Mundbewegungen und Gesten verlassen.“
Diana, taub

„Am schwierigsten wird es für mich, einen Tag lang nicht mit meinen Freunden mitreden zu können.“
Yasemin, stumm

Meine Erfahrungen als Blinde

 

Unzählige Dinge aus unserem Leben sind für uns oftmals ganz selbstverständlich, so auch unser Augenlicht. Kaum einmal verschwenden wir einen Gedanken daran, dass wir eines Tages durch einen Unfall oder eine Krankheit nichts mehr sehen könnten. In der Schweiz gibt es über 300'000 Menschen, die sehbehindert oder blind sind. Mit dem Experiment, einen Tag lang auf mein Augenlicht zu verzichten, wollte ich selbst erfahren, welchen Herausforderungen diese Menschen täglich begegnen.

 

Meine Blindheit simulierte ich durch eine einfache Schlafmaske, die ich mit einer Sonnenbrille verdeckte. Bereits im Vorfeld war ich mir bewusst, dass der Tag äusserst anstrengend werden würde und in der Sekunde, in der ich die Maske aufsetzte und es um mich herum dunkel wurde, bestätigte sich dieser Eindruck. Es war ein beklemmendes Gefühl.

 

Das erste Missgeschick geschah bereits beim Frühstück. Nachdem ich für die Zubereitung meines Müslis mindestens doppelt so lange wie normal gebraucht hatte, stiess ich beim Essen die Cornflakes-Packung um und konnte hören, wie sich deren Inhalt über meinen gesamten Wohnzimmerboden verteilte. Da ich weder wusste, wo genau in meinem Putzschrank der Besen war, noch wie weit die Cornflakes überall verteilt waren, konnte ich die Unordnung nicht selbst beseitigen. Es sollte nicht die letzte Situation sein, in der ich auf fremde Hilfe angewiesen war und bereits jetzt war ich heilfroh, dass ich den Tag nicht alleine verbringen musste.

 

Richtig schwierig wurde es, als ich aus dem Haus auf die Strasse ging. Ich habe schnell gemerkt, dass ein Skistock als Blindenstock nicht viel taugt. Durch meinen ungeübten Umgang war er sogar viel eher eine Bedrohung für meine Mitmenschen als eine Hilfe für mich.

Mich so ganz ohne Hilfsmittel und alleine auf der Strasse fortzubewegen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Ich hörte den Verkehr, konnte aber nur schwer abschätzen, in welcher Entfernung er war. Dies machte mich äusserst unsicher. Ich war deshalb sehr froh, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich führte und hatte auch keine Probleme, dieser Person voll zu vertrauen, da ich ohne sie schlicht völlig hilflos war.

 

Auch beim Einkaufen war ich auf Hilfe angewiesen. Da ich den Laden kannte, konnte ich mich ungefähr orientieren, wo ich mich jeweils befand. Durch Ertasten konnte ich sogar einige Lebensmittel finden. Um die Sache aber etwas zu beschleunigen, sagte ich meiner Begleitperson, was ich brauchte und sie besorgte es für mich. Beim Zahlen an der Kasse half mir die sehr nette Verkäuferin mit dem Geld und packte meine Einkäufe sogar für mich in die Tüte. In dem Moment wurde mir bewusst, wie viel einfacher alles geht, wenn selbst fremde Menschen sich nur ein paar Sekunden Zeit nehmen um zu helfen.

 

 

Am Nachmittag besuchte ich in der Schule eine Vorlesung. Hier war ich zum ersten Mal in einer grösseren Gruppe von Menschen. Ich musste erfahren, wie schwer es ist, sich in Gespräche mit mehreren Beteiligten einzubinden, wenn man nichts sieht. Vieles läuft über die nonverbale Kommunikation, die für mich nicht möglich war. Dies führte dazu, dass ich mich teilweise sogar etwas ausgeschlossen und alleine fühlte, da ich zwar mitbekam wie viel um mich herum geschah aber nicht aktiv daran teilnehmen konnte. Nur wenn Leute mich wirklich gezielt und direkt ansprachen, fühlte ich mich miteinbezogen.

 

Der Unterricht selber erforderte hohe Konzentration, denn wenn ich nicht genau zuhörte, war es sehr schwer der Dozentin zu folgen. Da sie mit Folien arbeitete, bekam ich viele Dinge nicht mit. Auch hier half es mir sehr, wenn sich meine Mitstudenten die Zeit nahmen, mir einiges nochmals zu erklären.

 

Besonders ungewohnt war für mich, mein Smartphone nicht oder fast nicht benutzen zu können. Beim Ausprobieren war ich jedoch erstaunt, wie viel mit einer Sprachsteuerungssoftware möglich ist. So konnte ich SMS lesen und schreiben, Leute anrufen und sogar E-Mails öffnen. Wenn ich die Uhrzeit wissen wollte, tat ich dies ebenfalls mittels Sprachbefehl mit meinem Handy.

 

Zugegeben, einer der grossen Vorteile dieses Tages war, einmal nicht alle paar Sekunden auf das Handy schauen zu können. Ich war erschrocken ab mir selbst, als ich selbst ohne etwas zu sehen aus lauter Gewohnheit immer wieder in meiner Hosentasche nach meinem Smartphone griff, um einen Blick auf den Display zu werfen und mir erst dann jeweils bewusst wurde, dass das ja gar nicht geht.

 

Im Laufe des Tages war ich etwas sicherer unterwegs und hatte auch gelernt, besser auf mein Gehör zu achten. So konnte ich beispielsweise bereits vor den anderen erkennen, dass jemand hinter uns ging. Auch Gerüche habe ich verstärkt wahrgenommen.

Im Allgemeinen war ich viel langsamer unterwegs als normalerweise, da alles einfach viel mehr Zeit brauchte. Ich war gezwungen, die Dinge langsam und bewusst zu machen. Für mich war das eine spannende Erfahrung, denn ich gehe ansonsten oftmals zu schnell und gestresst durch das Leben.

 

Trotz der positiven Aspekte war ich heilfroh, als ich die Maske am Abend wieder abnehmen konnte. Danach brauchte ich einige Minuten, um mich an die zahlreichen visuellen Eindrücke zu gewöhnen, die plötzlich wieder auf mich einschossen.

 

Das Experiment war eine sehr spannende und lehrreiche Erfahrung für mich. Obwohl wahrscheinlich jeder bestätigen würde, wie schwer es für blinde oder sehbehinderte Menschen sein muss, durch das Leben zu gehen, wird einem doch erst richtig bewusst, auf was man alles verzichten muss, wenn man einmal selbst in so einer Situation ist. Denn es sind auch, oder vor allem die kleinen Dinge, die wir gar nicht bewusst wahrnehmen, welche uns dann fehlen, wenn wir sie nicht mehr sehen.

 

 

 

 

TAUB

 

 

Endlich konnte ich nach Hause, da ich vor hatte am Nachmittag noch einzukaufen. Ich zog mich kurz um und war etwas nervös bezüglich der Reaktionen der Leute, die ich nicht kenne. Meine Einkaufsliste führte mich zu erst in die Apotheke. Ich habe mir aufgeschrieben, was ich brauche und zeigte das kleine Stück Papier der Apothekerin. Am Anfang war sie sehr verunsichert und wusste nicht, ob ich auch nichts hören kann. Ich zeigte ihr jedoch schnell mit meiner Gestik, dass ich sie gut verstehe und das Verkaufsgespräch verlief normal weiter. Auch die zweite Verkäuferin in einem Schokoladengeschäft bediente mich wie jeden anderen auch. Ich schätzte es sehr, dass ich nicht anders behandelt wurde wie sonst.

 

Am Nachmittag traf ich meine Kollegin zu einem Eis. Da es ein Gespräch zwischen vier Augen war, kam es mir einfacher vor mich auszudrücken. Sie war sehr aufmerksam und versuchte alles so gut wie möglich zu verstehen. Bei Unklarheiten, fragte sie meist mit einer geschlossenen Frage nach und so waren auch diese schnell beseitigt. Grundsätzlich ist mir aufgefallen, dass mir ein Gespräch mit einer vertrauten Person und vor allem nur zu zweit, viel einfacher fiel. Vor diesem Tag habe ich mir nämlich immer Sorgen gemacht, dass wir keine Gesprächsthemen finden würden. Dies war aber grösstenteils kein Problem.

 

Eine weitere Erfahrung war der Umgang mit meinem Hund. Es war spannend zu sehen, wie er sich bereits an meine Geräusche gewöhnt war. Er wartete vor allem beim Apportierspiel immer auf mein Kommando, dass er loslaufen darf - ohne mich dabei anzuschauen. Viel mehr interessierte ihn der Ort, an dem sein Dummy gelandet war. Ich konnte seinen Blick dann jeweils mit Schnalzen und Stampfen doch noch gewinnen.

 

Es war eine wertvolle Erfahrung, die ich an diesem Tag gemacht habe. Ich würde mich eigentlich als eine geduldige Person einschätzen, trotzdem wurde ich einige Male an diesem Tag unruhig. Ich lernte mich auf eine andere Art und Weise kennen, was auch für mein Umfeld gilt.

 

 

Meine Erfahrungen als Gehörlose

 

Ohne genau zu schauen, gehen wir jeden Tag über die Strassen.

Ganz vertrauen wir auf unser Gehör. Gespräche mit unseren Freunden zu führen, mitzureden, anderen zuzuhören; für uns ganz normale und selbstverständliche Alltagssituationen.

 

Wie erlebt aber jemand, der nichts hören kann, jemand der taub ist, solche alltäglichen Situationen? Dies wollte ich herausfinden und habe mich dem Experiment gestellt, einen Tag lang auf einen meiner Sinne zu verzichten.

 

Als Erstes musste ich klarstellen, dass ich auch wirklich meine Umgebung nicht hören konnte. Dies war nicht ganz einfach. Denn eine totale Stille zu simulieren, war fast unmöglich. Deshalb habe ich bei meinem Experiment einfach darauf geachtet, dass ich die Geräusche und Stimmen in meiner Umgebung nicht wahrnehmen konnte. Über meine Kopfhörer habe ich dann Musik gehört und das Volumen so eingestellt, bis ich mein Gegenüber nicht mehr verstehen konnte.

 

Mein Tag begann sehr gemütlich. Denn meinen Wecker hörte ich natürlich nicht. Ich konnte also ausschlafen. Allerdings habe ich mir schon Gedanken darüber gemacht, wie sich denn jemand, der nichts hören kann am Morgen weckt. Nach etwas Recherchieren im Internet, habe ich herausgefunden, dass es Wecker gibt, mit welchen Personen mit Licht oder Vibration geweckt werden können.

So oder so kann die moderne Technologie für Menschen mit einer Gehörschwäche von grosser Hilfe sein. Es gibt verschiedenste Apps, welche den Alltag vereinfachen können, wie zum Beispiel eine mobile Übersetzungsapp, welche die Kommunikation mit Gebärdensprache vereinfacht. Oder das Telefonieren wird ermöglicht, mittels eines mobilen Dolmetscherdienstes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Während meines Tages als Gehörlose ging ich auch zur Schule. Ich wollte herausfinden, ob ich an unserem Unterricht teilnehmen und die vorgetragenen Informationen aufnehmen kann. Ich habe festgestellt, wie wichtig es ist, dass die Folien sehr aussagekräftig sind. Denn Lippenlesen, bei solch einem Abstand, war für mich einfach nicht möglich.

 

Direkte Face-to-Face Kommunikation war dann schon um einiges einfacher. Da ich ein Problem bei meinem Web-Projekt hatte, habe ich einen Mitstudenten um Hilfe gebeten. Mithilfe seiner Gestik konnte ich ziemlich gut verstehen, was er mir zu erklären versuchte und wir konnten gemeinsam, auch dank seiner Geduld, das Problem lösen.

 

Um von A nach B zu kommen ist in Chur ein Fahrrad unabdingbar. So wollte ich ausprobieren, wie es sich anfühlt, sich im Verkehr zu bewegen, wenn man nichts hören kann. Mit dem Fahrrad zu fahren, ging ganz gut. Allerdings ist es schon etwas unheimlich, wenn man nicht hören kann, ob hinter einem ein Auto am Heranfahren ist. Ausserdem habe ich festgestellt, dass wir uns in vielen Verkehrssituationen schon sehr auf unser Gehör verlassen.

 

Am Abend veranstaltete ein Freund von mir eine WG-Party. Da war ich natürlich auch mit von der Partie. Ich musste feststellen, dass es gar nicht so einfach war, einem Gespräch zu folgen, wenn mehrere Personen involviert waren. Ich hatte fast keine Chance nachzuvollziehen, um was für ein Gesprächsthema es sich handelte, und konnte daher auch nicht wirklich mitreden. Ein komisches Gefühl, da man sich, obwohl man mittendrin ist, schon irgendwie ein bisschen als Aussenseiter fühlt.

An diesem Abend spielte sogar noch eine Band in der WG meines Freundes. Ich versuchte mich im Takt zur Musik zu bewegen. Dafür musste ich mich jeweils an den Leuten um mich herum orientieren und konnte so den Takt erfassen. Auch sehr hilfreich war, als sich ein Freund neben mir bei mir einhakte und ich so seinen Takt übernehmen konnte.

 

So ging dann ein interessanter und anstrengender Tag zu Ende. Ich muss jedoch gestehen, dass ich schon ziemlich froh war, als ich die Kopfhörer noch während des Konzertes wieder ablegen durfte, und so auch hören konnte, zu was für Musik ich eigentlich getanzt hatte.

 

Es war sehr eindrücklich festzustellen, wie sehr wir unseren Gehörsinn im Alltag brauchen und als wie selbstverständlich wir diesen nutzen. Ich schätze nun all die Geräusche, Simmen und Melodien, welche ich tagtäglich hören darf umso mehr.

 

Meine Erfahrungen als Stumme

 

Wer macht sich schon Gedanken darüber, wie es ist, einen Tag lang stumm zu sein, wenn man nicht selbst oder das Umfeld davon betroffen ist. Ich habe mir vor diesem Projekt kaum Gedanken darüber gemacht. Umso mehr interessierte ich mich dafür, nachdem ich mich entschlossen hatte, einen Tag lang stumm zu durchleben.

 

In den ersten Stunden befand ich mich in der Schule. So wurde ich auch gleich einigen Herausforderungen ausgesetzt. An diesem Vormittag fanden zwei Meetings statt. Ich war gespannt, wie die anderen auf mich reagieren würden. Meine Gruppenmitglieder, welche am Meeting teilnahmen, wussten jeweils über mein Projekt Bescheid. Dementsprechend waren sie sehr verständnisvoll. Sie versuchten mich, so gut es geht, immer miteinzubeziehen.

 

Schwieriger war es bei denen, die noch nichts davon wussten, zum Beispiel einer Mitstudentin, welche ich auf dem WC antraf. Sie begrüsste mich gleich freundlich, aber als nur ein Winken mit einem verlegenen Lächeln als Antwort kam, fragte sie mich gleich, was den los sei. Nun, wie erklärt man jemandem, dass man an einem Projekt teilnimmt und an diesem Tag nichts sagen darf?

 

Als ich merkte, dass die Kommunikation mit Händen und Lippenbewegungen nicht funktionierte, kramte ich gleich Block und Stift hervor, um ihr ein paar Stichworte aufzuschreiben. Über diese zwei Utensilien war ich an diesem Tag übrigens einige Male heilfroh. Nach der Schule war ich etwas ungeduldig. Die vielen Worte, welche ich am Vormittag nicht aussprechen konnte, lagen mir „auf dem Magen“. Ich habe gemerkt, dass ich vieles nicht sagte, weil meine Kommunikationspartner entweder zu schnell das Thema wechselten oder es schlicht und einfach zu schwierig war, etwas Komplexeres zu erklären.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In unseren Berichten nehmen wir immer wieder Bezug auf seh-, sprach- oder hörbehinderte Menschen. Tatsächliche Behinderungen dieser Art beinhalten allerdings oftmals viele weitere Aspekte, welche wir bei unserem Projekt nicht simulieren konnten und auch nicht wollten.

Das Experiment „Handicapped“ ist aus der Motivation entstanden, einen Tag lang ohne einen unserer gewohnten Sinne zu verbringen und trotzdem unseren normalen Alltag zu durchleben. Da wir uns dadurch teilweise in Ausnahmesituationen befunden haben, sind daraus möglicherweise komische oder, gerade für Menschen mit einer entsprechenden Behinderung, realitätsfremde Situationen entstanden. Es liegt uns fern, damit irgendjemanden, insbesondere behinderte Menschen, zu beleidigen oder lächerlich zu machen.

 

 

 

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