En route pour Marseille

- Der Weg ist das Ziel -

Zwei Studenten reisen von Bern nach Marseille. So, wie es heute niemand mehr macht: per Anhalter. Sie geben sich vier Tage Zeit und nehmen je 300 Euro mit. Ein Reisebericht über ein hausgemachtes Abenteuer.

Bern Grauholz, Mittwoch, 09:55 Uhr

Ein kühler Wind weht, es regnet leicht. Nicht unbedingt die idealen Umstände, um kurz vor einer Autobahneinfahrt auf Mitleid zu hoffen. Manche Autofahrer zeigen ein wenig davon, indem sie mit Bedauern auf den mit Kindern oder Gepäck besetzten Rücksitz weisen. Andere wiederum ignorieren uns eiskalt. Nein, unser Auto hatte keine Panne. Und nein, wir leiden nicht an einer unüberwindbaren Abneigung gegenüber anderen Verkehrsmitteln. Nein, wir stehen hier freiwillig. Wir wollen per Anhalter nach Marseille, per Anhalter ans Meer.

Ihm ist die Situation nicht neu, Tobias hat schon an Strassen in verschiedensten Ländern den Daumen nach oben gehalten. Andreina hingegen wagt es zum ersten Mal. Und Andreina verliert bereits die Geduld. Wir warten zwar erst ein paar wenige Minuten hier, doch bei Autofahrern, die genauso unfreundlich sind wie das Wetter, ist ihr jede Minute eine zuviel. Für Luft gehalten zu werden schmeichelt niemandem, und die hier so offen demonstrierte Ignoranz kann nur als Abneigung interpretiert werden. Der nächste Autofahrer unterstreicht diesen Gedanken sogleich: Er ignoriert uns nicht etwa, sondern wirft uns einen bösen Blick zu.

Es ist nicht viel los an diesem Morgen an der Raststätte Grauholz. Durchschnittlich fährt ein Auto pro Minute an uns vorbei. Andreina blickt zum Café – vielleicht um zu sehen, wie viele Gäste und potentielle Chauffeure sich darin befinden, vielleicht aber auch, weil sich ein Gipfeli und eine heisse Schoggi als Alternative zum Frieren und Ignoriertwerden geradezu aufdrängen.

Unverhofft kommt ein Renault ein paar Meter von uns entfernt zum Stehen. Unsicher blicken wir in die Richtung des Kleinwagens, als eine Frau vom Beifahrersitz aufsteht und zu uns hinüber sieht. Vorsichtig gehen wir auf sie zu – sie scheinen tatsächlich unseretwegen angehalten zu haben. Einige Sekunden später sitzen wir auf der Rückbank und fahren Richtung Süden. Nach nur gerade mal 10 Minuten Wartezeit.

Andrea

Das erste freundliche Gesicht unserer Reise: Andrea.

Andrea erzählt, wie sie früher regelmässig getrampt hat. Wochenlang habe sie per Anhalter ganz Mallorca bereist. Am Steuer neben ihr sitzt Franziska. Das Paar besucht für ein Wochenende die Eltern Franziskas, die sich in einem idyllischen Dörfchen in Südfrankreich niedergelassen haben. Und die beiden Frauen sind uns so sympathisch, dass wir mit dem Gedanken spielen, die ganze Strecke mitzufahren und so das schlechte Wetter der Alpenregion hinter uns zu lassen. Allerdings wären wir so in kurzer Zeit unserem Ziel viel näher als erwartet. Die Geschichte, die wir zu erzählen hätten, würde dementsprechend kurz und wahrscheinlich weniger spannend ausfallen. So weisen wir die dargebotene Hand ab und entscheiden uns, kurz nach Grenzübertritt in Annecy auszusteigen. Ein folgenschwerer Fehler, wie wir später realisieren müssen. Die dunklen Wolken, die am Himmel aufziehen, bemerken wir nicht, als wir uns im schmucken Alpenstädtchen ein Fondue bestellen. Die frevelhafte Tat, als Schweizer in Frankreich ein Fondue zu essen, wird ebenso schnell bestraft wie das Fondue serviert wird. Die merkwürdige Brühe scheint den spanischen Touristen am Tisch neben uns zwar gut zu schmecken, unsere Vorfreude jedoch weicht schnell kulinarischem Entsetzen. Die Crêpe wiederum, die wir uns darauf in einer kleinen Crêperie gleich nebenan gönnen, stimmt eher versöhnlich.

Annecy, Mittwoch, 16:00 Uhr

Gestärkt und mit einigen Souvenirs im Gepäck machen wir uns auf den Weg zur Autobahn zurück. Es regnet leicht, wie schon am Morgen in Bern. Einige Minuten später stehen wir mit unseren schweren Rucksäcken an einem Kreisel; eine der Ausfahrten führt auf die Autobahn Richtung Süden. Anders als in der Schweiz gibt es in Frankreich keine Autovignetten, jedoch die Péage, ein Mautstreckensystem. Nur gegen eine variable Gebühr dürfen in Frankreich Schnellstrassen befahren werden. Und auf eine solche Strasse sollten wir gelangen, wenn wir dem Süden heute noch etwas näher kommen wollen.

Die Franzosen scheinen an diesem Tag schon früh Feierabend zu machen, nur so können wir uns die hohe Anzahl an Fahrzeugen erklären. Trotz des erfreulichen Erlebnisses auf der Berner Raststätte ist Andreina nach einigen Minuten Wartezeit nur noch vorsichtig optimistisch. Am Morgen waren es schliesslich nur einige wenige Fahrer, die uns ignoriert haben. Hier sind es unzählige pro Minute. Zu alledem verdunkelt sich der Himmel über uns immer mehr. Nach einer halben Stunde beginnt schwerer Regen zu fallen. Besorgt sehen wir zu, wie die Abwasserrinnen innert kürzester Zeit überlaufen. Zehn Minuten strömenden Regens später sind wir komplett durchnässt. Vielleicht ist es der stockende Verkehr, der seinen Teilnehmern die Laune verdirbt, vielleicht ist es aber auch unsere klatschnasse Erscheinung, welche die französischen Autofahrer abschreckt.

Eine Stunde vergeht, wir stehen immer noch am Strassenrand. Den Standort haben wir mehrmals gewechselt, allerdings ohne Wirkung. Uns ist es mittlerweile egal, ob wir noch auf die Autobahn kommen. Wir müssen einfach nur weg hier. Das Schild, das den Autofahrern unser Ziel („Süden!“) anzeigt, werfen wir weg ... es ist nicht mehr lesbar. Unweit von uns, an der Kreiselausfahrt zur Autobahn, hat sich ein anderer Anhalter positioniert. Wir beobachten erstaunt, wie er innert Kürze aufgeladen wird. Trotz heruntergekommener Kleidung und langen Rastas. Wir stossen wüste Flüche gen dunklen Himmel, aber auch das bringt nichts: Das Unglück ist schliesslich hausgemacht. Wir denken an Franziska und Andrea, die wohl gerade auf einer Veranda in der Abendsonne mit einem Glas Rosé anstossen.

Tobias

Hadert mit dem Schicksal: Tobias.

Annecy, Mittwoch, 18:05 Uhr

Als schliesslich ein Wagen nicht nur hält, weil der stockende Verkehr es nicht anders zulässt und uns ein älterer Herr freundlich anspricht, kennt unsere Freude keine Grenzen. Laurent wohnt in einem Dörfchen ganz in der Nähe, lange mitnehmen kann er uns daher nicht. Aber sein Mitleid mit uns war grösser als die Sorge um eine trockene Rückbank, lässt er uns wissen. Er fahre diese Strecke jeden Tag, da er in der Nähe von Genf arbeite, jedoch hier in Frankreich wohne. Wir erzählen ihm von unserem Vorhaben. Er schüttelt nur den Kopf. Er mag die Ardennes, oder die Champagne, Paris sei auch wundervoll, das Alsace ebenso … aber unser Ziel, das könne er bei bestem Willen nicht nachvollziehen. Als wir durch sein Dorf fahren, hält Laurent nicht. Er bringe uns gleich nach Aix Les Bains. Dort würden wir problemlos eine Unterkunft finden, sagt er. Nach einer halben Stunde Autofahrt sind wir am Ziel angekommen. Es regnet noch immer in Strömen, als wir uns von Laurent verabschieden. Und so flüchten wir ins Trockene, in eine Brasserie und gönnen uns ein wohlverdientes Bier, bevor wir uns auf die Suche nach einer Unterkunft machten.

Aix les Bains, Donnerstag, 09:30 Uhr

Als wir am nächsten Morgen aufwachen, brummt uns der Schädel. Der zeitweise vielversprechende Casino-Besuch zu später Stunde hat uns am Ende nur Kopfschmerzen und ein leichteres Portemonnaie eingebracht. Kein Grund indes, nicht zeitig loszuziehen. Bei den Bäckereien stehen Leute Schlange, ansonsten ist in Aix-Les-Bains an diesem grauen Morgen nicht viel los. Wir kennen uns nicht aus, folgen den Wegweisern Richtung Autobahn und orientieren uns an den Google-Maps-Informationen, die wir im Hotel heruntergeladen haben. Womöglich liegt es am mangelnden Orientierungssinn, vielleicht ist es aber auch tatsächlich etwas kompliziert in Aix-Les Bains; auf der Suche nach der Autobahn sind wir sind rund 90 Minuten zu Fuss unterwegs, die Autos, die an uns vorbeifahren, können wir an einer Hand abzählen. Unser Weg führt uns an heruntergekommenen Resorts und Bädern vorbei, die von besseren Zeiten zeugen, später durchqueren wir ein verschlafenes Dorf. Irgendwann stehen wir auf einer Brücke über der Autobahn. Ratlos sehen wir zu, wie hunderte Autos unter uns durchfahren. Eine Auffahrt hingegen sehen wir nicht. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiter unseres Weges zu ziehen, von dem wir nur eines wissen: er führt durch Niemandsland.

Dies bestätigt uns auch Thierry. Wir sind mittlerweile in Mouxy, einer weitläufigen Gemeinde, die etwa 2000 Einwohner zählt. Thierry und seine Tochter, die neben ihm im Auto sitzt, sind zwei davon. Eigentlich am Ziel seiner Fahrt angelangt, entscheidet er sich, uns aufzuladen und einige Kilometer weiter zu fahren. Wir seien hoffnungslos verloren, sagt er und lacht vergnügt. Wir sehen, wie wir wieder zurück Richtung Aix-Les-Bains gefahren werden. Seiner Tochter neben ihm scheinen die Extrameilen nichts auszumachen. Vorsichtig beäugt sie uns, die beiden Fremden im Fond. Ob sie versteht, was hier vor sich geht? Dass auch mal der Weg das Ziel sein kann?

Thierry

Retter in Not: Thierry brachte uns zurück auf den richtigen Weg.

Bei einem vielbefahrenen Kreisel etwas ausserhalb von Aix verabschiedet sich Thierry von uns und wünscht uns viel Glück. Noch damit beschäftigt, das Schild mit unserem Ziel hervorzukramen, kommt bereits ein nächstes Auto neben uns zu stehen. Der Fahrer stösst die Beifahrertür auf und lächelt uns freundlich zu. Philippe hat die Situation sofort erkannt, erzählt er uns, als wir weiter Richtung Chambery fahren. Vor einigen Jahren, als Jugendlicher noch, sei er oft per Anhalter unterwegs gewesen, erinnert er sich. Nicht immer seien die Busse so regelmässig gefahren wie heute. Hinten auf der Rückbank neben Andreina sitzt sein kleiner Sohn Hugo im Kindersitz - ein sympathischer, schweigsamer Geselle. Unsere Anwesenheit scheint ihn nicht gross zu kümmern. Aufmerksam folgen seine Augen dem Geschehen ausserhalb der Seitenscheiben. Sein Vater versichert ihm, wieder und wieder, dass es bald Mittagessen gäbe. Erst als Philippe an der gewohnten Ausfahrt vorbei fährt, meldet sich Hugo fragend zu Wort. “Un petit détour, Hugo, on arrive tout de suite”, antwortet sein Vater und bringt uns ein noch ein kleines Stück weiter, bis er uns an einer Tankstelle unweit von Chambery absetzt.

Voglans, Donnerstag, 11:55 Uhr

Das Mittagessen, das der kleine Hugo serviert bekommen wird, schmeckt wahrscheinlich besser als das Tankstellen-Futter, mit dem wir uns begnügen müssen. Nach einer kurzen Stärkung stehen wir bereits wieder bei der Ausfahrt und werden erneut innert weniger Minuten aufgeladen. Am Steuer sitzt Sylvie, eine etwas ernst dreinblickende Frau mittleren Alters. Sie hat wie wir eine längere Reise vor sich. Ihr Ziel: Turin, dort wohne ihre Schwester, erzählt sie. Die Französin scheint erst eher zurückhaltend zu sein, taut aber schnell auf. Per Anhalter gereist sei sie früher nie, aber Gesellschaft sei ihr auf längeren Autofahrten willkommen. Sie erzählt uns vom französischen Start-Up-Unternehmen BlaBlaCar. Während es in der Schweiz kaum Leute gibt, die den Service nutzen, erfreut er sich in Frankreich (und vielen weiteren Ländern der Welt) grosser Popularität. Sylvie schreibt auf der Plattform manchmal ihre Fahrten nach Italien aus, hin und wieder fahren Passagiere mit ihr für ein kleines Entgelt mit. Heute wären wir das offenbar, zahlen müssen wir aber nichts, sagt sie und schmunzelt.

Das Glück scheint uns hold zu sein. Innert einer halben Stunde haben uns gleich drei Autofahrer mitgenommen. Wie konnte es sein, dass wir gestern oder heute Morgen stundenlang warten mussten? Noch haben wir kein Rezept dafür, wie es mit dem ”Stöpple” definitiv klappt. Wir nähern uns dem Ende der gemeinsamen Fahrt. Einige Regentropfen fallen auf die Windschutzscheibe, am grauen Himmel ziehen wieder bedrohliche Wolken auf. Noch lassen wir uns davon nicht beunruhigen.

La Chavanne, Donnerstag, 12:45 Uhr

LaChavanne

Eine Mautstelle gleich bei La Chavanne.

In La Chavanne trennen sich unsere Wege. Sylvie fährt weiter Richtung Italien, wir befinden uns etwas ausserhalb einer Péage. Wie wir ernüchtert feststellen, führen die Schnellstrassen entweder zurück nach Chambery oder weiter nach Italien. Sylvie hat uns nicht gerade am idealsten Ort abgesetzt. Es bleibt nichts als der Weg übers Land. Wir satteln unsere Rucksäcke und begeben uns zu einer Landstrasse, die in Richtung Süden und damit vielleicht auch nach Grenoble führt. Auf der anderen Seite des Flusses lockt ein malerisches Städtchen. Aber wir müssen weiter und sagen dem starken Wind und den schweren Beinen den Kampf an.

Etwa hundert Meter enfternt sehen wir eine Stelle, die sich zum Autostopp eignet. Bevor wir dort ankommen, hält ein Wohnwagen neben uns. Ein blonder Mann mit Dreitagebart und verschmierter Nickelbrille spricht uns an, stottert einige Worte auf Französisch. Akzent und Nummernschild verraten seine Herkunft schnell: Er ist aus Deutschland, wir sprechen dieselbe Sprache. Aus dem hinteren Bereich des Wohnwagens dringen laute Rufe hervor, ein kleines blondes Mädchen blickt hervor und grüsst uns auf Französisch. Leider haben wir nicht dasselbe Ziel: Der Fahrer möchte mit seiner Familie eine stillgelegte Mine hier in der Nähe besuchen. Ob sie auf unserem Weg liegt, möchte er wissen. Sie sind offenbar ebenso verloren wie wir.

Ein Wagen fährt langsam an uns vorbei, und verlangsamt noch etwas mehr, bis er ganz zum Stillstand kommt. Ein junger Mann mit Wollmütze tritt aus dem Auto und winkt uns herbei. Er stellt sich as Edi vor, am Steuer sitzt sein Kumpel Antoine. Hastig räumt Edi hinten im Auto etwas Platz frei. Während wir uns auf den Rücksitz zwängen, sticht uns der Duft von Tabakrauch und Cannabis in die Nase, aus den Lautsprechern dringt Reggae-Musik. Machen sie selber, sagt Antoine, während er langsam anfährt. Besorgt sieht sich Tobias im Innern des kleinen Autos um. Es hat offenbar schon einiges miterlebt. Ihm sei einst sein Auto stillgestanden, erzählt Antoine einige Kilometer später und lacht laut. Und seit ihn damals jemand aufgeladen habe, versuche er den Gefallen zu retournieren, erzählt er weiter. “Ecoutez!”, weist Antoine uns dann an und dreht das Radio etwas lauter. Wir lauschen einem Reggae-Song, auf den die beiden Musiker besonders stolz sind, und geniessen die Fahrt durch die malerischen Landschaften der Isère entlang. Nach rund 20 Minuten hält Antoine an einer Kreuzung an. ”Pontcharra” steht da auf einem Schild. In diesem Kaff wohnen sie, sagt er, zuckt mit den Schultern und grinst. Lachend verabschieden wir uns und stellen uns wieder an den Strassenrand.

Pontcharra, Donnerstag, 13:20 Uhr

Wir warten seit einer Viertelstunde. Hin und wieder nähert sich ein Auto, aber stets nur, um ebenfalls nach Pontcharra abzubiegen. Plötzlich rauscht ein Wagen an uns vorbei, bremst einige Meter weiter vorne aber scharf ab. Wir rennen dem Auto nach und werden von einem jungen Paar willkommen geheissen. Jérémie und Deborah, vielleicht beide etwa 25 Jahre alt, stecken in Kleidern, wie sie sie bestimmt schon als Fünfzehnjährige getragen haben. Wer sich davon oder vom tiefer gelegten Audi und dem mit Rasurmotiven versehenen Kopfhaar der beiden zu Vorurteilen verleitet sieht, wird schnell eines Besseren belehrt. Wir führen während der beinahe einstündigen Fahrt angeregte Gespräche über Musik, das Berufsleben und die Liebe. Die beiden zeigen ausserdem offen Begeisterung für unser Unterfangen und schmieden Pläne, es uns gleich zu tun. Jérémie fährt uns quer durch Grenoble ans andere Ende der Stadt, wo wir gleich an die Autobahn Richtung Südfrankreich gelangen können.

Jérémie und Deborah

Vielleicht auch bald per Anhalter unterwegs: Deborah und Jérémie.

Grenoble, Donnerstag, 14:45 Uhr

In Grenoble nimmt unsere kulinarische Reise ihren weiteren unbeeindruckenden Lauf - nach dem misslungenen Fondue, einer faden Take-Away-Pizza, Snacks aus dem Tankstellen-Shop folgt nun ein Döner und ein Baguette mit Frischkäse. Ohne Begeisterung verspeisen wir den Fast Food und versprechen uns gegenseitig, am Abend etwas Leckeres zu essen. Wir sind schliesslich in Frankreich. Dann begeben wir uns zur Autobahneinfahrt. Erinnerungen an das Fiasko von Annecy werden wach - wo stellt man sich bei all dem Verkehr nur hin? Wir haben etwa fünf Mal unsere Position geändert, als wir nach etwa vierzig Minuten Wartezeit von der jungen Aude aufgeladen werden. Sie bringt ihre Schwester Laurie und ihren Freund Thomas an den TGV-Bahnhof etwas ausserhalb von Valence. Wir verlassen die Autobahn relativ bald und fahren stattdessen über Land. Zum ersten Mal auf unserer Reise zeigt sich die Sonne. Die Fahrt führt durch Wiesenlandschaften und schönste Alleen. Zufrieden lehnen wir uns zurück und hören den redefreudigen Franzosen zu.

Grenoble

Malerische Aussicht in Grenoble.

Nach einem kurzen Zwischenstopp am TGV-Bahnhof und der Verabschiedung von Laurie und Thomas fährt uns Aude weiter in die Stadt. Wir bleiben noch einen Moment sitzen und unterhalten uns weiter mit der sympathischen Französin. Dann geht es weiter in die Stadt. Wir quartieren uns in einem Hotel ein, und suchen uns, wie geplant, ein schickes Restaurant. Beim Abendessen lassen wir den Tag Revue passieren: Für eine Strecke, die bei idealen Verkehrsbedingungen vielleicht 90 Minuten beansprucht, waren wir einen Tag lang unterwegs. Einen Tag, an dem wir viel Freundlichkeit erfahren und viele interessante Gespräche geführt haben. Selbst der verbittertste Misanthrop würde nach einem solchen Tag vielleicht etwas gnädiger auf die Menschheit blicken.

Valence, Freitag, 10:00 Uhr

Das Aufstehen ist uns auch schon leichter gefallen. Doch wenn das erste Ermüdungserscheinungen waren, so sind sie nach dem Frühstück im Freien wieder verflogen. Die Sonne scheint nach wie vor, es ist bereits ziemlich warm. Das schlechte Wetter liegt offenbar definitiv hinter uns. Mit dem öffentlichen Verkehr begeben wir uns an den Stadtrand. Nach einem viertelstündigen Fussweg erreichen wir das nächste Dorf. Wir folgen der Hauptstrasse, die das ganze Dorf durchquert, nicht ohne einen Halt einzulegen und uns ein erstes Glas Rosé zu gönnen - ein Versuch, uns den hiesigen Sitten anzupassen? Wir wissen es nicht, aber er tut gut. Nach dieser ersten Pause gehen wir noch einige hundert Meter weiter bis zum Dorfrand.

Lange warten wir nicht, es dauert nur ein paar Minuten bis ein Lieferwagen anhält und ein euphorischer junger Mann herausstürmt und uns herzlich die Hände schüttelt. Wir verstehen ihn nicht wirklich, der starke Akzent und ein leichter Sprachfehler sind dem gleichermassen hinderlich. Lange bitten lassen wir uns aber nicht und nehmen auf dem Rücksitz des Wagens Platz. Drin sitzen zwei andere Männer, beide um die 30 Jahre alt. Sie heissen Zeko und Chavi, der Mann, der uns begrüsst hat, ist Sandro. Zeko döst neben uns auf dem Rücksitz. Er kichert manchmal leise, wenn seine Freunde auf den Vordersitzen laut lachen, sonst scheint er der dröhnenden Musik zu trotzen.

Unsere Gesprächsversuche scheitern im Musik-Krieg, den Chavi und Sandro veranstalten. Chavi scheint Anhänger groben osteuropäischen Gangsta-Raps zu sein, wohingegen Sandro mit süsslichem Ostblock-Pop vorlieb nimmt. Kaum dreht der eine die Lautstärke etwas hinauf, schaltet der andere wieder leiser oder gleich einen Song weiter. Dann unterhalten sie sich angeregt, in einer Sprache, von der wir kein Wort verstehen. Irgendwann zeigen sie jedoch Ermüdungserscheinungen und wir nutzen den Moment der Ruhe, um mit Sandro ins Gespräch zu kommen. Wie sich herausstellt, spricht er nicht nur ein wenig Französisch, sondern auch Deutsch, Spanisch und Italienisch. Und Rumänisch. Sie seien Roma, die Strasse ihre Heimat, erzählt er nicht ohne Stolz. Er sei durch ganze Europa getrampt.

Später in Avignon stellen wir mit Freude fest, wie Solidarität die Menschen prägt. Wer selber gute Erfahrungen gemacht hat beim Trampen, ist gerne bereit, Anhalter mitzunehmen, schöne Erinnerungen werden wach und vergangene Erlebnisse weitererzählt. Ein Kreis, der sich schliesst, trotz neuer Gesetze oder Gewohnheiten. Sandro und seine beiden Freunde sind weiter direkt nach Marseille gefahren und wir fordern das Glück noch ein nächstes Mal heraus.

Zeko, Chavi und Sandro

Sorgten für beste Unterhaltung: Chavi, Zeko und Sandro.

Avignon, Freitag, 16:30 Uhr

Nach einem Rundgang durch das schmucke historische Zentrum der Papststadt machen wir uns wieder auf den Weg. Wir gehen der Strasse entlang, die gen Süden führt, rechter Hand die Rhone, hinter uns die weltberühmte ”Pont d’Avignon”. Oben die Sonne, schwer drückend. Wieder rauschen unzählige Autos an uns vorbei. Erschöpft sehen wir uns an. Nun scheinen schon zehn Minuten eine Ewigkeit zu sein. Von Avignon fährt jede Stunde ein TGV direkt nach Marseille. In einer halben Stunde wären wir am Ziel. Wir kommen nicht dazu, der Versuchung nachzugeben. Von einem Pärchen aufgeladen, das in Richtung Arles unterwegs ist, geht unsere Reise weiter.

Maurice und Anne sind beide in der Provence geboren, erzählen sie uns während der Fahrt durch die malerische Landschaft. Und hier bleiben sie auch. Wir können sie verstehen und bestaunen, wie die Idylle um uns herum in ein goldenes Licht getaucht wird. In Arles sei heute der letzte Tag der Feria d’Arles, teilt uns Anne mit. Mit der Feria werde jeweils die Stierkampf-Saison in Südfrankreich eröffnet, was hunderttausende Besucher anlockt. Wir dürfen uns also auf etwas gefasst machen, sagt sie und lacht.

Angekommen in der Stadt, die Van Gogh einst zu seinen schönsten Gemälden inspirierte, finden wir nur mit Mühe eine Unterkunft. In einzelnen Teilen der Stadt ist unglaublich viel los. Ganze Strassenzüge sind gesperrt, unzählige Menschen versuchen einen Blick auf die Umzüge zu ergattern. Erstmal eingecheckt, stürzen auch wir uns ins Vergnügen.

Arles, Samstag, 10:25 Uhr

Es ist nicht mehr weit bis nach Marseille. Unsere Herberge ist in der Nähe der Autobahnauffahrt. Allerdings wird diese nur von wenigen Fahrzeugen frequentiert; nach einer Stunde stehen wir immer noch dort. Auf der Karte suchen wir eine andere Autobahnauffahrt, durchqueren zu Fuss mehrere Wohnquartiere, bis wir bei einer Ansammlung von Supermärkten etwas ausserhalb von Arles ankommen. Das Glück des gestrigen Tages scheint uns nicht mehr gewiss. In der Mittagszeit blicken wir dutzenden Fahrzeugen hinterher. Deren Fahrer lächeln uns zwar freundlich zu oder bremsen ab, um zu lesen, was auf unserem Schild steht, aber nur um nachher den Kopf zu schütteln. Es ist bereits nach zwölf Uhr, als endlich ein Wagen hält.

Arles

Vielleicht hält ja dieses Auto ... Andreina ist guter Hoffnung.

Mit Joseph fahren wir dem Meer entgegen, erhaschen gar einen Blick darauf. Nun sind wir ganz nah am Ziel. Der Südfranzose ist auf dem Weg zu einem Kundenbesuch. Er nehme eigentlich keine Anhalter mit, sagt er uns, aber wir hätten so ausgesehen, als hätten wir eine gute Tat nötig gehabt. Wir lachen und geben zu, dass wir uns das Ende der Reise mittlerweile doch sehr herbei sehnen.

Fos sur Mer, Samstag, 13:10 Uhr

Bei einer Passage, welche verschiedene Strassen miteinander verbindet, lässt uns Joseph aussteigen. Hier schnellen nun nicht nur Personenwagen an uns vorbei, sondern auch schwere Lastwagen. Von Fussgängern oder Fahrradfahrern keine Spur. Ob wir uns hier überhaupt aufhalten dürfen? Erinnerungen an einen Zwischenfall in der Schweiz werden wach. Vor einer Weile trampte Tobias durch die Schweiz und wurde von einem Autofahrer nahe an einer Autobahnauffahrt in Winterthur abgesetzt. Nach rund zehn Minuten am Strassenrand hielt ein Wagen - ein kleiner Smart der Quartierpolizei Winterthur. Der Polizist wies Tobias freundlich, aber bestimmt darauf hin, dass er in den letzten Minuten drei Anrufe von besorgten Mitbürgern erhalten hätte: Hier stünde jemand in einer strikten Fussgängerverbotszone.

Doch bevor jemand hier in Südfrankreich die Polizei auf den Plan ruft, hält schon ein nächster Wagen an. Am Steuer sitzt ein älterer Herr. Er nickt uns zu und fordert uns dazu auf, einzusteigen. Louis startete am Morgen in Montélimar, in der Nähe von Valence, und fährt nun seiner Heimat entgegen. Während der Fahrt erzählt uns der Rentner, wie er einst in der Schweiz gearbeitet und gelebt hat. Er lächelt ob seiner schönen Erinnerungen, und wir freuen uns mit ihm mit. Darüber, in der Ferne Geschichten aus der Schweiz zu hören, darüber, sich überall zu Hause zu fühlen.

Louis

Brachte uns ans Ziel: Louis.