von Nora Pfund, illustriert von Nadia Etter
Sie schob den Kinderwagen die Gleise entlang. Ein Langstreckenzug fuhr durch den Bahnhof und der Fahrtwind zerrte an den Kleidern der Wartenden. «Nur zwei Schritte und ich würde auf die Gleise und vor den Zug knallen», dachte Hanna. Dann schüttelte sie den Gedanken wieder ab, er war nicht ernst gemeint. Sie war nicht depressiv und hatte auch keine Selbstmordgedanken. Sie wollte einfach nur nicht mehr sie sein.
Ihr Zug fuhr ein. Sie schaute sich nach jemandem um, der ihr beim Einsteigen helfen könnte. Ein junger Mann um die Zwanzig stieg aus und fragte: «Brauchst du Hilfe?» Hanna nickt. «Dein Brüderchen?», fragte er mit einem Lächeln. Hanna nickt wieder. Es war so viel einfacher, als zuzugeben, dass sie die Mutter war. So konnte sie seinem Blick entgehen, der Erstaunen, Mitleid und Scham beinhalten würde.
Der Zug rattert durch die Landschaft. Ben sass auf Hannas Schoss und mampfte glücklich an einem Melonenstückchen. Hanna schaute aus dem Fenster, ignorierte Ben und die anderen Reisenden und träumte. Sie bemerkte nicht, wie Ben seine Melone fallen liess. Er begann zu weinen. Erst leise, dann immer lauter, bis er brüllte. Es erwischte Hanna kalt. Schnell begann sie den Jungen zu schaukeln und versuchte gleichzeitig ihm ein neues Stückchen aus dem mitgebrachten Tupperware anzubieten. Aber Ben wollte nicht. Er schlug ihr die Melone aus der Hand und brüllte weiter. Hanna schaute sich um. Alle starrten sie an. Genervte, mitleidige und wütende Blicke durchbohrten sie. Sie stand auf, versuchte ihren Sohn zu beruhigen. Dieser merkte jedoch, dass seine junge Mutter aufgebracht war und beruhigte sich kein bisschen. Ihr kam es vor, als ob die Schreie immer lauter wurden. Sie drangen in ihre Ohren, in ihren Kopf, in ihr Herz. Füllten sie komplett aus. Es gab nur noch Bens Gebrülle und die Blicke der anderen Pendler. Der Zug hielt. Hanna packte den Kinderwagen und zerrte ihn aus dem Waggon – das Melonentupperware blieb auf dem Tischchen zurück. Ben hatte aufgehört zu weinen, der Zug fuhr weiter und Hanna setzte sich auf eine Bank. Sie war fünf Stationen zu früh ausgestiegen. «Was mach ich bloss?» Diese Frage hämmerte in ihrem Kopf. So ging es nicht mehr. Sie konnte nicht weitermachen. Sie erträgt das nicht mehr! Sie musste sich jetzt entscheiden. Entweder nimmt sie den nächsten Zug zur Oma. Oder sie geht nach Hause, überlässt Ben ihrer Mam und geht. Diese zwei Möglichkeiten. Eins oder Zwei. Kopf oder Zahl.
Ben patschte ihr seine kleine Hand ins Gesicht und lächelte sie strahlend an. Hanna blickt in die dunkelblauen Augen ihres Sohnes. Dunkelblau, wie der Ozean. Wie ihre Augen. Hannas Herz hüpfte und sie lächelte. Zuneigung überflutete sie und drang bis in die Fingerspitzen und wollte hinaus. Und so knuddelte sie den kichernden Ben.