Der unschlüssige Schlüssel

Von Giulia Merki und Alex Kälin

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Vorwort

Hier wurde die Geschichte des Detektiven Franco Rossi
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Es war später Abend, als mein Telefon noch klingelte. Mühselig quälte ich mich aus meinem ausgeleierten Ledersessel und schlurfte zum Hörer, hob diesen ab und knurrte in den Lautsprecher:
«Ich hoffe es ist wichtig.»
Für einen Moment war es still am anderen Ende, dann erklang eine leise Stimme.
«Herr Rossi, hier ist die Polizeiwache, Areal 5.»
Ich seufzte und brummte etwas Unverständliches in den Hörer. Wenn die Herren von der Polizei zu so später Stunde noch etwas von mir wollten, war es unklug den jungen Telefonisten ans Telefon zu setzen. Dieser Sprössling kannte mich nicht einmal und wagte es dennoch mich um diese Uhrzeit noch aus dem Sessel zu holen.
«Was gibt’s?»
Zwar hatte ich wenig Lust, jetzt noch aus dem Haus zu gehen, doch so war das eben, wenn man sein Geld als Berater machte. Stumm verfluchte ich mich dafür, überhaupt aufgestanden zu sein, nahm meinen Mantel und verliess grummelnd das Haus.

Es war ein lauer Abend und auf den Strassen tummelten sich immer noch viele Menschen. Ich stellte meinen Kragen hoch und brummte leise vor mich hin. Als ich das Anwesen der Baumanns erreichte, hatten sich die meisten Polizisten bereits verzogen. Der Krankenwagen fuhr gerade davon und auf den Stufen standen nur noch ein kleiner Junge, eine Frau, die seine Hand hielt, und der zuständige Beamte, der erleichtert die Hände verwarf, als ich aus dem Wagen stieg. Sofort eilte er auf mich zu und wollte mir wild gestikulierend erklären, was geschehen war. Mit einem Blick brachte ich den Beamten zum Verstummen und stieg die Stufen hinauf, ging in die Knie und musterte den Jungen ausführlich.
Er war erstaunlich dick für sein Alter, sein Gesicht war voller Sommersprossen und die rote Haarfarbe schmeichelte seinem Teint nur wenig. Er hatte den Kopf eingezogen, so dass sein Kinn mit dem Hals verschmolz und klammerte sich an der jungen Frau fest. Wortlos richtete ich mich wieder auf, musterte die Frau kurz und betrat dann das Haus.

Es war sehr ordentlich und wirkte kühl, irgendwie unpersönlich. Nirgendwo fand sich ein Foto oder eine Kinderbastelei und auch ansonsten wirkte das Haus eher unbewohnt. Ich winkte den Polizisten zu mir, der sofort herbei eilte und schon zu einem Redeschwall ansetzen wollte. Ich ignorierte ihn, griff mir die Akte aus seiner Hand und wedelte ihn weg. Das Opfer hiess Maria und war die gute Seele des Hauses gewesen. Sie kümmerte sich sowohl um den Haushalt als auch um den kleinen Jungen, der Leander hiess. Dieser Leander und Sandra, eine Bedienstete des Hauses, hatten Maria im Keller gefunden. Erschlagen. In ihrer Hand fand man den Kellerschlüssel, die Tür war verschlossen gewesen. Ich runzelte die Stirn und besah mir die Kellertür von Nahem. Sie wies keinerlei Kratzspuren auf und auch sonst gab es keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen.
«Bringen Sie mir die Angestellte ins Wohnzimmer.»
Der Beamte hüpfte enthusiastisch davon und kehrte kurze Zeit darauf mit der jungen Sandra zurück. Ernst drein blickend folgte sie mir ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Ledersofa. Sie wirkte aufgekratzt und wischte die ganze Zeit imaginären Staub von den Kissen.

«Erzählen Sie mir, was passiert ist.»
Sie biss sich auf die Lippe, zögerte kurz und überkreuzte die Beine.
«Signora Maria ist hier für den Haushalt zuständig, ich helfe ihr aus. Heute war sie den ganzen Morgen unauffindbar gewesen, aber ich hatte mir keine weiteren Gedanken gemacht. Sie machte oft Besorgungen in der Stadt, während ich mich um Leander kümmerte. Es erschien mir zwar schon merkwürdig, dass sie nicht Bescheid gesagt hatte, aber Signora Maria war in letzter Zeit sowieso etwas durch den Wind. Sie wirkte aufgekratzt und unruhig, verschwand des Öfteren. Als sie dann am Nachmittag immer noch nicht aufgetaucht war, beschlossen ich und Leander sie zu suchen. Sie war nirgendwo im ganzen Haus und am Ende blieb nur noch der Keller übrig, von dem fehlte jedoch der Schlüssel. Wir gingen ums Haus und Leander stieg durch das Kellerfenster ein. Dort fand er Signora Maria und den Schlüssel. Er öffnete mir von innen die Tür und ich rief sofort die Polizei.»
Während sie redete, hatte sie immer mehr begonnen zu zittern und zum Ende hin war sie den Tränen nahe. Ich stand auf, bedankte mich bei der jungen Frau und trat hinaus ins Freie, zog eine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und steckte mir eine Kippe an.

Gedankenverloren starrte ich in die Ferne, als neben mir eine Stimme erklang.
«Rauchen ist sehr ungesund.»
Mein Blick wanderte nach unten und ich erblickte den pummeligen Leander, der sich zu mir gesellt hatte und an einem Eis lutschte. Wieder richtete ich meinen Blick in die Ferne.
«Und dein Eis ist gesund?»
Erstaunt musterte den Jungen zuerst mich und dann sein Eis, zuckte dann mit den Schultern und ass weiter.
«Immerhin ist Eis lecker.»
Ich schien den Jungen nicht wirklich zu beeindrucken und die Tatsache, dass seine Haushälterin soeben verstorben war, hatte einen ähnlich minimalistischen Effekt auf ihn. Ich setzte mich auf die Stufe und bedeutete Leander, sich ebenfalls zu setzen. Er drückte mir kurzerhand sein Eis in die Hand und setzte sich unbeholfen mit Hilfe seiner Hände zu mir.
«Musst du morgen nicht in die Schule, es ist schon spät?»
Leander schüttelte zufrieden den Kopf.
«Sandra hat gesagt, heute sei ein Ausnahmetag. Deshalb muss ich morgen nicht zur Schule und kriege jetzt Eis. Wobei ich die Aufregung nicht so ganz verstehe.»

Ich musterte den Jungen kritisch. Er schien wirklich nicht zu begreifen, was da geschehen war.
«Wo ist denn dein Vater?»
Leander zuckte mit den Schultern und lutschte weiterhin sein Eis. Gemeinsam starrten wir in die Ferne, der Junge in sein Eis versunken und ich in meinen neuen Fall. Was war hier bloss geschehen? Ein Mord in einem verschlossenen Raum. Ein ungerührter Junge. Ein abwesender Vater. Und was war mit der Mutter? Von ihr gab es im gesamten Haus kein Foto.

Am nächsten Tag wurde ich vom Telefon geweckt. Es war der Beamte vom Vortag. Wie schon am Vorabend schnappte ich meinen Mantel und verliess das Haus, holte mir unterwegs noch einen Kaffee und traf den Polizisten in der Gerichtsmedizin. Die Lust auf Kaffee verflog sofort, als ich die Leichenhalle betrat. Ein dürrer Mann kam auf mich zu und zog seine Handschuhe aus, um mir die Hand zu schütteln. Ich verzichtete und trat an ihm vorbei zu Maria, die mit geöffnetem Körper auf dem Tisch lag. Neben ihr in einer Schüssel lag etwas Fleischiges, das ich erst auf den zweiten Blick erkannte. Mein Magen drehte sich um.
«In welchem Monat war sie?»
Der Gerichtsmediziner strich Maria über die Haare und musterte sie resigniert.
«Im Sechsten. Noch so jung und dann wird sie einfach mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen.»
Erneut schlug ich die Akte auf und überflog sie. Von einem Partner stand nichts und niemand hatte etwas derartiges erwähnt. Immerhin wusste ich jetzt, in welche Richtung ich nach der Mordwaffe suchen musste. Ein stumpfer Gegenstand.
«Ist Herr Baumann mittlerweile von seiner Geschäftsreise zurück?»
Der Polizist nickte. Der Herr des Hauses war natürlich sofort verständigt worden, hatte aber erst einen Tag später eine Maschine zurück ins Land erwischt. Ich traf den Herrn zum Verhör auf der Polizeistation.

«Ich war sehr bestürzt, als mich die Nachricht erreichte. Maria war die gute Seele des Hauses und sie war so eine wichtige Bezugsperson für meinen Sohn. Er ist bestimmt am Boden zerstört.»
Ich musterte den Mann stirnrunzelnd. Hatte er etwa noch gar nicht mit seinem Sohn gesprochen?
«Herr Baumann, ich glaube nicht, dass Leander begriffen hat, was mit Maria geschehen ist.»
Ein Lächeln zuckte um die Mundwinkel des Herrn, er schien froh, dass seinem Sohn dieses Leid erspart worden war.
«Wo waren Sie in der Nacht, als Ihre Haushälterin verstarb?»
Irritiert musterte mich Herr Baumann.
«Wieso fragen Sie mich das? Ich war auf Geschäftsreise, was ihnen die Fluggesellschaft sicherlich bestätigen kann. Ausserdem habe ich gedacht, Maria sei die Treppe hinuntergestürzt? Gehen Sie etwa von einem Mord aus?»
Die Treppe hinunter? Und im Fall hatte sie noch die Tür von innen verschlossen und den Schlüssel fest umklammert? Wohl kaum.
«Wussten Sie, dass ihre Haushälterin schwanger war?»
Bestürzt fasste Andreas Baumann sich an die Brust und schlug die Augen nieder.
«Nein, davon wusste ich nichts. Wie schrecklich!»

Ich schwieg und verliess den Raum. Diese Geschichte wurde immer merkwürdiger. Wieso hatte niemand etwas von dieser Schwangerschaft gewusst und wieso war die Tür verschlossen gewesen? Wieso war das Kellerfenster offen gewesen und wieso war Leander so gar nicht bestürzt über den Verlust der Haushälterin?
Der Polizist vom Vortag eilte freudig auf mich zu.
«Ich weiss jetzt, was geschehen ist! Die Frau war wütend auf Herrn Baumann und wollte es ihm heimzahlen. Also ist sie in den Keller, hat die Tür geschlossen und sich dann von der Kellertreppe in den Tod gestürzt. Das Kind ist nämlich sicher von ihm!»
Er schien sehr stolz auf seine Schlussfolgerungen zu sein, ich seufzte und schüttelte leicht den Kopf. Sie brauchten mich hier wirklich. Bestimmt konnte der Beamte noch nicht einmal eine Banane essen, ohne zu vergessen, die Schale vorher zu entfernen.
Irritiert musterte der junge Mann mich.
«Was ist denn ihrer Meinung nach geschehen?»
Ich musste zugeben, dass ich auf diese Frage auch keine Antwort hatte und auch Stunden später, als ich wieder in meinem Büro sass, hatte sie mich noch immer nicht losgelassen. Wie konnte das sein? Ich rekapitulierte.

Signora Maria war mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen und im Keller gefunden worden. Es gibt nur einen Schlüssel zur Kellertür und der befand sich in Marias Hand. Das kleine Kellerfenster war offen. Maria war schwanger gewesen und niemand hatte es gewusst.
Herr Baumann war ausser Landes gewesen, Sandra hatte sich den ganzen Tag um Leander gekümmert. Eigentlich blieb nur der unbekannte Vater übrig, ausser ich hatte einen Aspekt übersehen, der diesen Fall komplett verzerrte.

Sandra knetete unruhig ihre Hände, als ich das Verhörzimmer betrat. Sie hatte ihren Blick starr auf den Tisch gerichtet, sie wirkte nervös. Ich stellte ihr eine Tasse Kaffee hin, die sie ignorierte.
«Wussten Sie, dass Signora Maria ein Kind erwartete?»
Die junge Frau erstarrte in ihrer Bewegung, zögerte einen Moment und hob dann langsam den Kopf. Sie sah mich durchdringend an und schüttelte langsam den Kopf. Ich glaubte ihr nicht.
«War Maria liiert mit jemandem?»
Wieder schüttelte Sandra den Kopf und fing wieder an, ihre Hände zu kneten. Ich seufzte, so würde ich nicht weiter kommen. Ich lehnte mich auf dem unbequemen Stuhl zurück, bis sich die Vorderbeine leicht vom Boden hoben. Eindringlich musterte ich das Mädchen und schwieg. So sassen wir da für ein paar Minuten. Sandra hob den Kopf und ich triumphierte innerlich.
«Maria hatte eine Affäre, doch sie wollte mir nichts darüber verraten. Sie tat sehr geheimnisvoll.»
Also doch.

«Verhielt sie sich merkwürdig in letzter Zeit?»
Sandra zuckte mit den Schultern. Mehr würde ich nicht mehr aus ihr herausbekommen.
«Noch eine letzte Frage. Wo waren sie zur Tatzeit?»
«Ich war aus. Leander ist ein guter Junge, aber die Tage mit ihm sind anstrengend. Ich bin also noch in die Stadt gefahren, um den Kopf frei zu kriegen.»
Ich tippte mir nachdenklich gegen das Kinn und liess sie dann im Verhörzimmer zurück.
Warum hatte Maria so geheimnisvoll getan und wie viel wusste Sandra sonst noch?
Mit jeder Antwort warfen sich mir neue Fragen auf. Ich beschloss, den jungen Leander zum Verhör zu rufen. Gewiss war er unschuldig und hatte nichts getan, dennoch steckten in diesen Kinderköpfen manchmal mehr, als man ihnen zutraute. Ich liess also einen Beamten losfahren und den Jungen abholen.

Leander baumelte mit den Beinen und starrte an die Decke, als ich den Raum betrat. Erst als ich die Tür mit einem Ruck schloss, blickte er zu mir und setzte sich richtig hin und bemühte sich, ruhig zu sitzen. Nach wenigen Sekunden begann er jedoch schon wieder zu zappeln. Das würde anstrengend werden. Ich setzte mich dem Jungen gegenüber und verschränkte die Finger.
«Möchtest du mir erzählen, was du gestern gesehen hast?»
Der Junge schaute seine Fingernägel an und fing dann gedankenverloren an, auf ihnen herumzukauen. Erst als sein Blick den meinen zufälligerweise wieder traf, bemerkte er, dass ihm eine Frage gestellt wurde. Er nickte.
«Maria war den ganzen Tag verschwunden. Am Anfang war das ganz lustig, weil sie immer viel strenger ist als Sandra, aber irgendwann hab ich mich dann geärgert. Immerhin hatte sie mein Mittagessen einfach vergessen. Und dann haben wir sie im Keller gefunden.»
Wieder schaute der Junge auf seine Fingernägel und wich meinem Blick aus. Das wusste ich selbstverständlich alles schon, ich musste also konkreter werden.

«Und was hast du in der Nacht gemacht?»
«Geschlafen?»
Ich seufzte. Natürlich hatte er geschlafen, was auch sonst.
«Also hast du nichts gehört?»
Leander schüttelte den Kopf und blickte mir nun fest in die Augen.
«Ich habe schlecht geschlafen, also bin ich zu Sandra. Bei ihr schlafe ich immer sehr gut und sie hat mir noch eine heisse Milch gemacht.»
Ich stutzte und legte den Kopf etwas schief. Hatte Sandra vorher nicht ausgesagt, sie sei an diesem Abend aus gewesen? Aber warum sollte sie lügen? Gut, wenn Leander schlief, hatte sie schon die Möglichkeit gehabt, noch in die Stadt zu fahren. Sie hatte aber auch die Möglichkeit gehabt, Maria im Keller zu erschlagen. Ich setzte ein Lächeln auf und musterte den Buben wieder.
«Du magst die Sandra ganz fest, was?»
Leander lief knallrot an und nickte dann verlegen.
«Und die Maria, magst du sie auch?»
Wieder nickte Leander, diesmal behielt er aber seine normale Hautfarbe.
«Gibt es denn noch wen anderes, der Maria mag? Der sie so fest mag, wie du Sandra magst?»

Der Junge starrte kurz an die Decke und überlegte.
«Alle mögen Maria. Sie macht gute Kekse. Und sie hilft Papa ganz viel. Ah und Sandra mag sie auch ganz ganz fest.»
Und schon zum zweiten Mal in diesem Gespräch stutzte ich. Wieso musste er so betonen, dass Sandra Maria mochte? Langsam wurde ich misstrauisch. Was hatte Leander gesehen?
«Aber einen Freund hat sie nie gehabt? Weisst du, die Maria bekommt ein Kind. Und das. Naja. Das geht ja nur, wenn da noch ein Mensch war, den sie mag.»
Konnte bitte jemand diesem Kind erklären, dass Maria tot war? Und das mit den Bienen und den Blumen. Noch nie hatte ich ein derartiges Verhör geführt und es bereitete mir Unbehagen.
«Manchmal war ein Mann da, aber das ist schon lange her. Ich mochte ihn nicht, er hat immer komisch gerochen.»
Ein Mann. Welch Wunder.
«Und weisst du auch, wie dieser Mann geheissen hat oder wo er wohnt?»

«Ich glaube, er heisst Enrico. Er hat mir einmal eine Actionfigur geschenkt. Er hat immer gesagt, ich sei dick und Maria soll nicht so viel für mich kochen. Ich mochte ihn also nicht.»
Natürlich, wie hätte es auch anders sein sollen.

Ich starrte an einen Punkt knapp über den Jungen und liess mir sämtliche Informationen noch einmal durch den Kopf gehen. Ich hatte mittlerweile schon viel zusammengetragen und doch wurde ich noch nicht schlüssig aus diesem Fall. Drei Personen. Herr Baumann war zur Tatzeit nicht im Lande gewesen und ein Motiv erschloss sich mir gerade nicht. Sandra. Sie schien auch nicht wirklich ein Motiv zu haben und doch wunderte ich mich über einige Aussagen. Es wirkte beinahe so, als würde der Junge sie beschützen. Aber er hatte doch noch nicht einmal begriffen, was mit der Haushälterin geschehen war. Und dann war da noch dieser Enrico. Über den wusste ich gar nichts, ausser dass Leander ihn nicht mochte. Aber das musste nicht viel heissen. Ich schätzte sein Urteilsvermögen als eher irrational ein. Ich schwieg noch einen Moment länger und sah dann wieder zu dem Jungen, der sich mittlerweile wieder langweilte.
«Du bist durch das Kellerfenster geklettert, nicht wahr? Wie bist du auf diese Idee gekommen?»
Leanders Brust schwoll an und der Junge grinste breit.
«Einmal als es ein Erdbeben gegeben hat, ist ein Regal vor der Tür umgestürzt und dann konnten wir die Tür nicht mehr öffnen. Da hat die Sandra das Kellerfenster vorsichtig eingeschlagen und ich bin reingeklettert und habe alles zur Seite geräumt. Da waren Papa und Sandra sehr stolz auf mich.»

Als ich die Tür hinter mir schloss, bedeutete ich dem Beamten, Leander etwas zur Unterhaltung zu bringen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass der Junge mehr mit der Geschichte zu tun hatte, als er zugab oder überhaupt registrierte. Leander passte durch dieses Kellerfenster. Es wäre ihm also theoretisch auch möglich gewesen, in den Keller zu steigen und Maria den Schlüssel in die Hand zu drücken. Aber wieso sollte er das tun und wieso hatte er nichts dergleichen erwähnt? Die zweite Möglichkeit war, dass Maria tatsächlich selber von innen abgeschlossen hatte und gestürzt war. Doch wieso sollte sie die Kellertür hinter sich abschliessen? Das ergab doch keinen Sinn. Variante drei war, dass der Täter die Tür von aussen abgeschlossen hatte und mit einem geschickten Mechanismus den Schlüssel in Marias Hand befördert hatte. Doch so etwas geschah meist nur in zweitklassigen Krimis und es waren auch keinerlei auffällige Spuren zu finden gewesen. Gab es noch eine vierte Möglichkeit, die ich nur nicht sah?
Ich setzte mich in den Drehstuhl des Polizisten und nahm mir den Bericht noch einmal vor. Sandras Alibi war bestätigt worden, sie war mit ihrer besten Freundin in einer Bar in der Stadt gewesen. Auch die Fluggesellschaft bestätigte das Alibi des Hausherrn. Die Fahndung nach Enrico würde rausgehen, sobald ein Phantomzeichner bei Leander gewesen sein würde.

Aber hätte Sandra das nicht bemerkt, wenn Enrico da gewesen war? Und wieso hatte sie Enrico nicht erwähnt? Ich beschloss, sie erneut zu befragen.
Zum dritten Mal sass ich der jungen Frau gegenüber, dieses Mal nippte sie an ihrem Kaffee und schien um einiges gefasster als bei den vorherigen Befragungen.
«Ihr Alibi ist bestätigt worden.»
Ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf die Mundwinkel der Haushaltshilfe. Ihre Schultern entspannten sich, sie überschlug die Beine und musterte mich zum ersten Mal eingehender.
«War Leander bei Ihnen in der Nacht, als Maria verstorben ist?»
Erstaunt wanderten ihre Augenbrauen in die Höhe und sie schüttelte den Kopf.
«Das hätte ich Ihnen doch gesagt, Herr Rossi.»
Tatsächlich gab es keinen Grund für die Aushilfe, zu lügen. Doch wieso sollte Leander lügen?
«Leander hat aber zu Protokoll gegeben, dass er bei Ihnen geschlafen hat.»
«Vielleicht hat er das geträumt? Oder er hat die Abende verwechselt, er tut das schon hin und wieder.»

Ich schwieg einen Moment lang, blätterte durch meine Unterlagen und fragte dann ganz beiläufig
«Und wieso haben Sie Enrico nicht erwähnt?»
Erstaunt musterte mich die Haushaltshilfe, zögerte kurz und zuckte dann mit den Schultern.
«Die Beiden sind schon lange kein Paar mehr. Ich hielt es nicht für wichtig.»
«Wie lange ist das her?»
Wieder zögerte Sandra, überlegte kurz und presste dann die Lippen aufeinander.
«Etwa ein halbes Jahr… Ist das Kind von ihm? Wie lange war sie denn überhaupt schon schwanger? Glauben Sie etwa, er hat sie umgebracht?»
«Trauen Sie ihm das denn zu?»
Wieder eine kurze Stille, sie holte Luft um zu einer Antwort anzusetzen, nur um sich dann wieder in den Stuhl sinken zu lassen. Nach ein paar Sekunden hatte die junge Dame sich wieder gefasst und nickte langsam.
«Und wieso trauen Sie ihm das zu?»
«Er war jähzornig. Und er war nicht glücklich über die Trennung. Es war Marias Entscheid.»

Ich verabschiedete mich und verliess die Polizeistation. Unterwegs griff ich zum Telefon und beauftragte den Beamten, Leander den Keller zeichnen zu lassen. Irgendetwas stimmte nicht und auch nach unzähligen Befragungen liess mich das mulmige Gefühl immer noch nicht los. Das verschmitzte Grinsen der Haushälterin blieb mir im Kopf hängen. Wieso dieser rasche Stimmungswandel? Natürlich, ihr Alibi war bestätigt worden. Aber wenn sie wusste, dass sie unschuldig war, hatte sie doch sowieso nichts zu befürchten? Oder übersah ich da wieder etwas? Wieso hatte sie erst auf seine Aufforderung hin über Enrico gesprochen. Wenn er so jähzornig war, hätte sie darin doch von Anfang an ein Motiv vermuten müssen.

Eine Stunde später erhielt ich ein Bild auf mein Handy geschickt. Der Beamte hatte mir eine Zeichnung des Kellers geschickt. Ich musterte das Bild und wurde in meinem mulmigen Gefühl bestätigt. Dennoch gelang es mir nicht, herauszufinden, was mich an der Zeichnung störte.
Ich steckte mein Telefon weg und klingelte an der Tür, bei der ich mittlerweile angekommen war. Eine Frau mittleren Alters mit Lockenwicklern in den Haaren öffnete und musterte mich misstrauisch.
«Wir kaufen nichts.»
Sie wollte die Tür gerade wieder schliessen, doch ich hielt die Hand gegen die Tür.
«Sie sind eine alte Freundin von Maria, nicht wahr?»
Die Dame kniff die Augen zusammen und öffnete dann widerwillig die Tür, um mich hinein zu lassen. Das Gespräch hatte keine zehn Minuten gedauert. Mir wurde weder einen Sitzplatz noch etwas zu trinken angeboten und es war sehr offensichtlich, dass die Frau nichts mit mir zu tun haben wollte. Dennoch verliess ich die Wohnung mit der Information, die ich brauchte. Der Adresse auf dem kleinen Zettel folgend stieg ich in den Bus und durchquerte die Stadt. Diese alte Freundin von Maria hatte Enrico tatsächlich gekannt und war bereit gewesen, mir seine Adresse aufzuschreiben.

Kurze Zeit später stand ich wieder vor einer Tür, klingelte wieder und wieder öffnete sich jene nur einen Spalt weit, darin ein misstrauisches Gesicht.
Enricos Gesicht wirkte aufgequollen und fahl, die Augen gerötet. Ich stellte mich vor und wurde dann tatsächlich hineingelassen. Dieses Mal war ich sehr froh, wurde mir keine Sitzgelegenheit angeboten, denn die Wohnung war in einem erbärmlichen Zustand und ich war mir sicher, dass ich hier nicht gesund rauskommen würde, wenn ich mich hinsetzte.
«Sie suchen also dieses Arschloch, das Maria auf dem Gewissen hat.»
Es war keine Frage gewesen, mehr eine Feststellung. Enrico liess sich auf die ausgeleierte Couch fallen und nahm einen Schluck aus seinem Bier.
«Ich tippe ja auf diese Aushilfe. Sie war immer neidisch auf meine Maria.»
«Ihre Maria? Ich dachte, sie seien seit einem halben Jahr nicht mehr zusammen?»
Er winkte ab und nahm einen weiteren Schluck, rülpste laut und schüttelte betrübt den Kopf.
«Das ist alles Vergangenheit. Ich wollte für sie da sein. Für sie und unser Kind. Ich habe ihr verziehen.»

Ich hatte mehr den Eindruck, dass Enrico die Schuld an der Beendigung der Beziehung getragen hatte und verstand nur zu gut, warum eine Frau nicht mit ihm zusammen sein wollte. Gerade nicht, wenn man ein Kind erwartete. Aber er schien sie zu lieben. Wieso sollte er die Mutter und das Kind töten, wenn er sich beides wünschte.
«Das Kind ist also von Ihnen?»
Empört stemmte der untersetzte Mann sich aus der Couch hinaus und machte eine ausladende Geste mit seiner Hand.
«Natürlich war das mein Kind. Was fällt dir eigentlich ein, so etwas zu fragen! Wir haben uns geliebt! Ich hätte ihr die Welt geschenkt. Und jetzt ist sie einfach tot.»
Der Mann begann zu schluchzen, mehr würde ich wohl nicht mehr erfahren. Ich machte mich also auf den Weg, war jedoch nur halb überzeugt. Ich glaubte nicht, dass Maria von diesem Mann ein Kind haben wollte. Ich glaubte nicht, dass sie ihn geliebt hatte und ich glaubte nicht, dass sie sein Kind getragen hatte. Aber er glaubte das. Oder das sagte er zumindest. Für mich hatte sich schlussendlich keine Frage wirklich geklärt. Ich wusste jetzt nur, wieso Maria von diesem Herrn nichts mehr wollte.
Also garantiert auch kein Kind. Dieser Herr war wirklich nicht gerade ein Hauptgewinn.

Hauptgewinn… War da nicht etwas gewesen? Gewinner… Pokal…Und da traf es mich. Der Pokal! Auf Leanders Bild war ein Pokal zu sehen, am Tatort war aber kein Pokal gewesen. Eilig zog ich mein Handy aus der Tasche und rief im Präsidium an. Noch während ich sprach, rannte ich auf den nächstbesten Bus, der mich zwar in die falsche Richtung fuhr, mir jedoch das Gefühl von effizienter Fortbewegung gab. Eine Stunde später hatte ich es endlich ins Verhörzimmer geschafft. Ich krallte mir Leanders Zeichnung und starrte sie an.

«Was ist damit?»
Erschrocken fuhr ich hoch, ich hatte den Jungen komplett ausgeblendet. Nach einem letzten Kontrollblick auf die Zeichnung, setzte ich mich dem Kind gegenüber und verschränkte die Finger.
«Du hast doch diesen Keller gezeichnet, nicht wahr?»
Leander nickte.
«Und du hast da einen Pokal gezeichnet…»
Leander zögerte. Dann nickte er.
«Wir konnten diesen Pokal nicht finden. Weisst du, was damit geschehen ist?»
Leander zögerte noch länger.
«Enrico hat ihn mitgenommen… Nachdem er Maria damit erschlagen hat.»

Von diesem Moment an ging alles schnell. Der Exfreund wurde verhaftet, Leander stundenlang verhört, Enricos Haus wurde durchsucht, doch der Pokal blieb unauffindbar. Ich schien der Einzige in diesem ganzen Trubel zu sein, dem die Geschichte merkwürdig vorkam. Wieso war Leander nicht traumatisiert, wenn er einen Mord beobachtet hatte? Und die Sache mit dem Schlüssel in ihrer Hand war auch immer noch nicht geklärt. Während der Beamte also schon die Sektkorken knallen liess, nahm ich mir den Exfreund noch einmal vor. Dieser beteuerte weiterhin standhaft, Maria nicht umgebracht zu haben und nichts von einem Pokal zu wissen. Ich glaubte ihm.

Dafür erfuhr ich von einem Streit zwischen ihm und Andreas Baumann, dem Herrn des Hauses. Offenbar war Enrico einmal betrunken bei den Baumanns aufgekreuzt, woraufhin Andreas ihn hinausgeworfen hatte. Und als Enrico seine Freundin hatte mitnehmen wollen, habe der Hausherr ihm eine reingehauen. Ich fand das genauso merkwürdig, wie Enrico und notierte in meinem Kopf, dass ich Herr Baumann erneut befragen musste.

Ich verliess das Verhörzimmer und begegnete draussen einem resignierten Beamten mit leichter Sektfahne.
«Leander hat gerade ausgesagt, dass es keinen Pokal gibt und er ihn falsch gezeichnet hatte.»
Langsam ging mir das Kind auf die Nerven und ich wurde daran erinnert, wieso ich mir nie selber eines dieser Dinge zugelegt hatte. Mit einem Seufzen betrat ich also das Nebenzimmer und knallte die mittlerweile sehr dicke Akte auf den Tisch.
«Jetzt reicht es mir langsam, Leander. Wir setzen uns jetzt hin und du erzählst mir die ganze Geschichte von A bis Z. Du lässt nichts aus und lügst mich nicht an. Haben wir uns verstanden?»
Der Junge nickte mit eingezogenem Kopf und schwieg. Ein paar Minuten vergingen in denen Leander sich innerlich sammelte. Als ich die Hand auf den Tisch schlug, schreckte er hoch und begann endlich zu erzählen.

«Also, es gibt einen Pokal. Der steht normalerweise auch im Keller, er gehört Papa. Und ich habe gesehen, wie Enrico ihn im Garten vergraben hat. Aber ich wollte das nicht sagen, weil Sandra den ab und zu abwischt und dann sind ihre Fingerabdrücke drauf und sie war es doch bestimmt nicht und ich wollte nicht, dass das falsch aussieht.»
Sein Gesicht war tomatenrot angelaufen und er wagte es nicht mehr, mich anzusehen. Dann schwieg er wieder. Ich verliess den Raum und informierte den Beamten über das Versteck und setzte mich dann wieder zu dem Jungen in den Raum.
«Wieso beschützt du Sandra? Was hast du wirklich gesehen an dem Abend? Jede Aussage die du bisher gemacht hast, schien dazu da gewesen zu sein, die junge Frau zu entlasten. Du weisst, dass das sie umso verdächtiger macht?»
Erschrocken riss Leander den Kopf hoch und starrte mich an.
«Nein, das war ganz sicher Enrico! Sandra hat nichts damit zu tun.»
«Wir werden sehen.»

Natürlich wurde der Pokal kurze Zeit darauf gefunden und natürlich fanden sich auf dem Pokal von allen Fingerabdrücken. Nur von Enrico war nichts zu finden gewesen. Doch auch nach einer erneuten Befragung blieb Leander bei seiner Geschichte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als alle Verdächtigen noch einmal unter die Lupe zu nehmen.

«Herr Baumann, ihr Sohn behauptet, dass Enrico der Mörder ihrer Haushälterin sei. Dabei beschützt er die ganze Zeit Sandra. Meine Frage nun also, trauen sie der jungen Frau einen Mord zu?»
Andreas Baumann musterte mich irritiert, strich sich über das glattrasierte Kinn und überlegte einen kurzen Moment.
«Ich kann mir das schon vorstellen. Seit dem Tod meiner Frau hatte Sandra immer wieder Interesse an mir bekundet. Da hat es ihr wohl nicht gepasst, dass ich eine Beziehung mit Maria eingegangen war. Und der Pokal als Mordwerkzeug passt da auch nicht schlecht. Sie hat das Ding immer vergöttert, hat sich stundenlang darin angeschaut und ihn poliert.”
Ich starrte den Mann an. Er war mit Maria liiert gewesen und hatte das nicht erwähnt? Und ich hatte doch den Pokal gar nicht erwähnt? Als der Herr des Hauses meinen Blick bemerkte, biss er sich auf die Lippen.
«Das mit dem Pokal hat mir Leander erzählt.»
«Sie halten mich wohl für ziemlich doof.»
Herr Baumann schlug die Augen nieder.


Der Beamte hüpfte ganz begeistert auf und ab, das dritte Glas Sekt hätte er wohl besser sein lassen.
«Erzählen sie mir noch einmal, was Baumann gesagt hat! Das ist ja ganz wunderbar!»
Ich seufzte, er hätte auch einfach den Bericht lesen können, aber mit so viel Zucker und Alkohol im Blut schien der Polizist nicht mehr zu bremsen zu sein.
«Also. Herr Baumann hatte eine Affäre mit Maria gehabt. Am Tag des Mordes hatte sie ihn angerufen und sagte ihm, dass es seinem Kind nicht gut ging und er zurückkommen sollte. Als er aber zuhause ankam, ging es Leander prächtig, denn Maria hatte nicht von dem Jungen, sondern von dem Baby gesprochen. So hatte Herr Baumann zum ersten Mal von dem Kind gehört, welches von ihm war. Und dann wollte Maria natürlich, dass Andreas Verantwortung übernahm und für ein paar Untersuchungen aufkam. Er hat Panik gekriegt und sie mit dem Pokal erschlagen, dann hat er den nächsten Flieger zurück genommen, um sich ein Alibi zu verschaffen.»
Der Beamte sah mich ganz verzückt an, so als wäre er ein kleines Mädchen und ich eine Zuckerwatte.

«Aber das erklärt natürlich die verschlossene Tür und den vergrabenen Pokal nicht.»
Das Grinsen des Polizisten gefror, doch ich bedeutete ihm mit einer Handbewegung, mir weiter zuzuhören.
«Hier kommt Leander ins Spiel. Er hatte an diesem Abend einen Streit zwischen Sandra und Maria belauscht und als er dann Maria entdeckt hatte, glaubte er, Sandra sei die Täterin. Er hat also die Tür verschlossen und war durch das Kellerfenster gestiegen, um Maria den Schlüssel in die Hand zu drücken. Er hatte den Eindruck gehabt, Maria schlafe nur und wollte, dass sie ihre Ruhe hatte. Mit dem Schlüssel in der Hand hätte sie dann am Morgen wieder aus dem Keller gekonnt. Trotzdem hatte ihn dieser Pokal gestört und so hatte er ihn im Garten vergraben einfach für den Fall, dass Sandra Schwierigkeiten bekam. So hatte er unbemerkt einen Mord in einem verschlossenen Raum geschaffen und seinem Vater die Tat unmöglich gemacht.”
Das verklärte Grinsen schlich sich zurück auf das Gesicht des Beamten.
«Das ist ja ganz wunderbar. Ohne Sie hätten wir diesen Fall nie gelöst! Sekt?»
Doch ich hatte mir schon meinen Mantel geschnappt und hatte das Polizeipräsidium verlassen. Ich fand das ganz und gar nicht wunderbar. Es war einfach nur absurd. Krank. Falsch. Ich vergrub mich in meinem Büro und zog das Telefon aus. Das war erst einmal genug für diese Woche.