DAS WAS DU BIST

DIE GESCHICHTE EINES STEINS, DER SICH FÜR TOT HÄLT UND SICH DANN DOCH FÜRS LEBEN ENTSCHEIDET.

«Glaubst du», fragte der Stein die Blume, die sich neben ihm im Wind sachte hin und her bewegte, «dass mich die Menschen für Tod halten?» «Warum meinst du das?», fragte die Blume und bog sich ein wenig, sodass ihr dünner Stil einen kleinen Knick bekam. Sie wunderte sich sehr. «Weisst du, bei dir sehen alle, dass du lebst – du blühst, bewegst dich und wächst immer wieder neu. Aber bei mir sehen sie nur einen leblosen grauen Klumpen – das macht mich traurig. Ich will nicht tot erscheinen.» «Das muss doch nichts heissen», erwiderte die Blume, die sich allmählich wiederaufrichtete. «Ich weiss, dass du lebst. Nicht jeder erkennt es vielleicht, aber was macht das schon. Dafür werden an dich keine Ansprüche gestellt», seufzte die Blume und drehte ihren Kopf ein klein wenig. «Ansprüche?», fragte der Stein, der sich jetzt, neugierig wie er war, ein wenig zur Seite rollte, um näher bei der Blume zu sein. Sie war aus der Nähe noch schöner. «Bei mir erwarten alle, dass ich jeden Frühling aufs Neue blühe und das natürlich in meiner schönsten Pracht. Immer und immer wieder und so früh wie möglich am liebsten, damit die Menschen froh werden. Sie denken dann, dass der Sommer nicht mehr weit weg ist und das macht sie glücklich», sagte die Blume und schüttelte sich. «Aber ist das nicht schön?», wunderte sich der Stein und versuchte noch ein wenig näher bei der Blume zu sein. «Oftmals, natürlich. Aber nicht immer. Bewundert zu werden, bringt viel Verantwortung mit sich. Manchmal ist mir nicht nach Blühen, manchmal möchte ich nicht wachsen, tue es aber trotzdem. Das strengt mich an und macht mich wütend.» «Aber du bringst den Menschen Freude. Ich bringe ihnen gar nichts, sie sehen mich nicht mal an», sagte der Stein traurig und schuf wieder ein wenig Distanz zwischen sich und der Blume. «Ich wünschte, die Leute würden mich manchmal nicht so oft sehen», bemerkte die Blume. Einige Menschen sind böse, sie zupfen an meinen Blüten, graben meine Wurzeln aus und treten mit ihren schmutzigen Schuhsohlen auf mir herum – sie verletzen mich», sagte die Blume leise und mehr zu sich selbst als zum Stein. Dabei sank eines ihrer Blütenblätter langsam zu Boden. «Da hast du es manchmal schon besser, Stein», flüsterte die Blume. «Aufmerksamkeit ist nicht alles. Manchmal ist es besser, wenn dich nicht alle kennen. Manchmal ist es besser, wenn sie dich für tot halten.» Der Stein war still, ihm fiel nichts mehr ein. Er fühlte sich traurig und gut zugleich. Der Wind pfiff durch seine Furchen und machte dabei ein kleines, liebliches Geräusch, das ihn lächeln liess. «Und noch etwas, möchte ich dir sagen», sagte die Blume, «du kannst dich glücklich schätzen, denn ich bin für immer an diesen Ort gebunden. Ich werde nie etwas Anderes sehen. Aber du bist frei. Geh mit dem Wind, hörst du. Lass dich von ihm an andere Orte tragen.» «Ich werde nie von dir fortgehen Blume», erwiderte der Stein, und gerade als er ihr noch etwas sagen wollte, kam einer dieser Menschen und pflückte sie. Sie roch wohl so gut. «Ich habe es mir überlegt, geh nicht fort», flüsterte die Blume ängstlich in der Hand des Menschen, während der Stein sah, dass das Leben langsam aus ihr wich. «Bis nächstes Jahr. Ich werde nicht fort sein. Ich bin hier. Ich bin tot», antwortete er und lächelte dabei.

INFRAROTFOTOGRAFIE

FILTERT DIE WIRKLICHKEIT UND ZEIGT DAS, WAS SONST VERBORGEN BLEIBT.

vorher - nachher

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