Der Wind zieht scharf über den asphaltierten Boden der Strasse.

Auf seinem Weg nimmt er ein paar Blätter mit und lässt sie für eine Weile in der Luft tanzen.

Für einen kurzen Moment scheint die Bewegung jegliche Gedanken zu verdrängen, sie lassen sich im Wind treiben und fliessen mit dem Strom der Begebenheit. Auf einen Schlag verschwindet die Bewegung und die Blätter segeln langsam zu Boden.

Von dem Platz unter der Haltestelle betrachtet Tristan das Schauspiel für eine Weile. Er hat seine Gedanken abschweifen lassen. Seine sonst so schlechte Laune ist für einen kurzen Augenblick verschwunden. Er geniesst den Moment. Er kommt nicht oft dazu, sich von seinem Leben ablenken zu lassen.

Tristan ist einsam. Die einzige Person die ihm je etwas bedeutet hat, ist vor Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Seitdem ist Tristan ein anderer Mensch. Aber wer könnte es ihm verübeln? Schliesslich musste er mit ansehen, wie sie starb, ohne dass er etwas dagegen hätte machen können. Noch immer macht er sich Vorwürfe. Die Last des Verlustes liegt schwer auf ihm. So schwer, dass er sich allem und jedem gegenüber verschliesst. Begleitet von Einsamkeit, wirkt er wie ein Aussenstehender, der eine Krankheit mit sich trägt. Seit jener schicksalsträchtigen Nacht ist Tristan auf der Flucht.

Auf der Flucht vor dem Schmerz.
Auf der Flucht vor seinen Gedanken.
Auf der Flucht vor sich selbst.

Er möchte nicht noch einmal jemanden verlieren müssen, nicht noch einmal Versagen.

Das warme Lächeln des Busfahrers erlischt, als Tristan sich ein Ticket kauft. Manchmal hat er das Gefühl, die Menschen könnten die Abgründe erkennen, die sich in ihm auftun. Einige Deckenlampen im hinteren Abteil sind ausgefallen. Zielstrebig steuert er auf die letzte Reihe zu. Aus dem Platz in der Dunkelheit beobachtet Tristan das Geschehen auf der Strasse.

Hier fühlt er sich sicher.
Unsichtbar.

Eine Frau springt in die Arme eines wartenden Mannes, sie scheinen sich lange nicht gesehen zu haben. Tristan kann das freudige Lachen der Frau erkennen; die Fältchen am Rande ihrer Augen. Er kann das Glück spüren, auch wenn er es selbst lange verloren hat.

Das Rütteln des Busses, der sich wie eine Schlange über den unebenen Asphalt schiebt, reisst Tristan aus seinen Gedanken. An der nächsten Haltestelle müsste er aussteigen. Doch wozu? Nur um einen weiteren einsamen Abend zu Hause zu verbringen. Um wieder dieselben TV-Shows zu schauen. Um dasselbe fade Fertigmenü aus der Mikrowelle zu essen und schliesslich vor der Flimmerkiste einzuschlafen.

Aber wohin sollte er sonst?

Noch bevor Tristan wieder seiner, für ihn üblichen Melancholie verfallen kann, kommt der Bus mit quietschenden Reifen zum Stehen. Er wird aus dem Sitz gerissen und zu Boden geschleudert. Halblaut flucht er vor sich hin: "So eine Scheisse! Was soll das Mann? Halt die Karre doch auf Kurs!"

Benommen rappelt er sich wieder auf, ein schmerzerfülltes Stöhnen lenkt seine Aufmerksamkeit nach vorne.

Einige Gäste blicken über die Schulter und mustern das Geschehen. Sie brechen für ein paar Augenblicke aus ihren üblichen Mustern aus. Doch ihr Leben geht weiter, ihre Blicke gehen zurück auf die Mobiltelefone oder aus dem Fenster.

Die übrigen Busgäste scheinen nicht bemerkt zu haben, dass eine junge Frau am Boden liegen geblieben ist. Tristan ist wohl der Einzige dem es aufgefallen ist. Sogar der Busfahrer setzt seine Route unbeirrt fort.

Niemand scheint sich wirklich um sie zu kümmern.

Die junge Frau hält sich den Kopf und richtet sich langsam auf, um zurück in ihren Sitz zu kriechen. Ihr Mantel hat sich durch die Flüssigkeit am Boden an manchen Stellen dunkel verfärbt.

Erst jetzt sieht Tristan, dass sich ein schwerer dunkler Fleck im Gang gebildet hat.

"Das muss Blut sein. Scheisse, sie hat sich sicher verletzt!" , schiesst es Tristan durch den Kopf.

Tristan merkt nicht, dass er die Frau anstarrt und nicht daran gedacht hat, ihr zu helfen oder etwas zu unternehmen. Eine Mischung aus Selbstzweifel und Ratlosigkeit bäumt sich in ihm auf. Doch seine Blicke bleiben nicht unbemerkt. Ruckartig dreht sich ihr Kopf zur Seite. Er schafft es nicht, seinen Blick abzuwenden oder so zu tun als würde er zufällig in ihre Richtung schauen.

Die braunen Augen scheinen ihm sagen zu wollen, "Wieso schaust du nur? Wieso hilfst du mir nicht? Siehst du nicht, dass ich jemanden brauche?"

Normalerweise würde ihn eine solche Situation kalt lassen. Zu gross ist die Gefahr, erneut zu scheitern. Doch diesmal ist etwas anders. Tristan spürt, dass er der Frau helfen möchte. Er versucht, sich zu erklären, warum er nicht wie gewöhnlich einfach wegschauen kann. Das Ganze einfach geschehen lassen. Die Fremde ihrem Leid überlassen und sich selbst wieder in sein Schneckenhaus zu verkriechen, auch wenn ihn das eines Tages sein Leben kosten würde.

Noch bevor er realisiert, was er tut, erhebt sich Tristan von seinem Sitz und stolpert in Richtung der braunen Augen. Als er neben ihr steht, hört er sich selbst fragen: „Hey, ist alles klar bei dir? Sieht so aus als wärst du ganz schön übel auf die Fresse gefallen. Hast du noch nen Platz frei?“

Was war nur los mit ihm?

Das war nicht er selbst, denn mit der Zeit hatte er gelernt, sich von der Aussenwelt abzuschotten. Das Leiden mit wohliger Wärme zu betäuben. Das ewige Hin und Her, die Vibration des Lebens, welche für Tristan längst erloschen schien, beginnt langsam wieder zu flackern.

„Mit mir ist alles in Ordnung, danke“, antwortete die Frau. Als sie bemerkt, wie Tristan den dunkelroten Fleck auf dem Boden mustert, fährt sie fort: “Meine Rotweinflasche ist leider zerborsten, keine Sorge, mir ist nichts passiert. Aber du darfst dich gerne zu mir setzen."

Mit einem Lächeln fügt sie hinzu: "Ich heisse übrigens Lucia."

Die Busfahrt ist unruhig geworden und die Scheiben schwingen im Takt des Motors.

"Aber jetzt erzähl mir mal Tristan, wie geht es dir denn?", durchdringt Lucias Stimme die wiederkehrende Taubheit meiner Gedankenwelt.

Ich kann ihr verschmitztes Lächeln erkennen. Da sind sie wieder, die Fältchen an ihren Augenrändern. Ein Schauer läuft über meinen Rücken und breitet sich auf meinen Armen aus. Das kalte Gefühl der Einsamkeit elektrisiert meine Haare. Bevor ich meine Gedanken ordnen kann, fährt mich Lucia an: "Schau dich mal an! Wie siehst du denn aus? Du verkriechst dich am Ende des Busses, deine Augen haben ihr Licht verloren und dein Lächeln ist schon seit langer Zeit verschwunden."

Natürlich wusste ich, dass sie Recht hat.

Der süsslich bittere Geruch von Wein drängt sich in meine Nase. Doch etwas ist anders. Nach einer Weile hinterlässt der Geruch einen metallenen und schweren Nachgeschmack. Man sagt, frisches Blut riecht nicht, weil es noch nicht oxidiert ist; doch ich kann ganz klar Lucia im Chaos riechen.

Die Gedanken überschlagen sich in meinen Kopf, "Sie riecht so gut. Wie konnte es nur so weit kommen? Die Leere wird sich nie wieder füllen.“

„Reiss dich zusammen!“, wie ein Peitschenhieb durchschneidet Lucias Stimme meinen inneren Monolog. "Schau dich mal an. Schau an, was aus dir geworden ist. Deine Trauer wird dich ersticken! Lass es los! Lass mich los!"

Als Lucia versucht auf den Halteknopf zu drücken erkenne ich, wie die rote Flüssigkeit von ihrem Unterarm tropft. "Das ist doch gar kein Rotwein! Du blutest! Dir geht's nicht gut! Wir müssen einen Krankenwagen rufen!"

Ihr Finger hinterlässt einen roten Fleck auf dem Knopf. Das entfernte Klingeln aus der Fahrerkabine bekomme ich gar nicht mehr mit. Als der Bus anhält, stürmen die übrigen Fahrgäste nach draussen. Der Busfahrer würgt den Motor ab und die wackelnden Scheiben kommen abrupt zur Ruhe.

Nun sind nur noch Lucia und ich im Bus.

Ich erkenne, wie sich Flecken auf ihrer weissen Bluse ausbreiten. Die scharfen Knochen ihres Schlüsselbeins verschwinden unter dem dunkel gefärbten Stoff, der schwer an ihren Brüsten klebt. Als ich die Silhouette ihres Körpers erhasche, drängt sich wieder ihr Duft in meine Nase. Diesmal kann ich ihn schmecken. Der Blutgeschmack rinnt meine Kehle hinunter. Ein Gefühl der Lust überkommt mich. Das dunkle Verlangen nach ihrem Körper und ihrem Geruch. Noch einmal ihre Lippen, auf meinen zu spüren. Das vergängliche Gefühl von Nähe und Geborgenheit.

"Wach auf! Es ist Zeit! Steig aus, bevor es zu spät ist!", schallt es in meinen Ohren.

Ihre Schritte lassen kleine rote Tropfen auf den Boden fallen. Auf der letzten Stufe wispert sie, "Lass mich gehen! Es ist vorbei!" und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht.

Ich kann dich immer noch riechen.

Ich vermisse dich Lucia.

Als Tristan erwacht, bemerkt er das vertraut stechende Gefühl in seiner Armbeuge.

Ohne die Augen zu öffnen, zieht er die Spritze aus seinem Arm und schmeisst sie auf den Gehweg.

Zitternd zieht er das Foto aus seiner Brusttasche und wirft einen Blick auf die Fältchen an ihren Augen. Mit seinem Daumen streicht er ein paar Mal über die raue Oberfläche des Fotos und lässt es anschliessend auf seiner Brust ruhen.

Der Wind zieht scharf über den asphaltierten Boden der Strasse. Auf seinem Weg nimmt er ein paar Blätter mit und lässt sie in der Luft tanzen. Für einen kurzen Moment scheint die Bewegung jegliche Gedanken zu verdrängen, sie lassen sich im Wind treiben und fliessen mit dem Strom der Begebenheit.

Das warme Licht der aufgehenden Morgensonne taucht die Welt in goldenes Licht.