Betonromantik

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Einleitung


Wie sieht Bern aus? Lebhaftes Leben unter den Lauben, das 100 Meter hohe Münster und Bären, welche sich auf ihrer Wiese neben der blauen, kühlen Aare tummeln. Dieses Bild hatte ich von der Schweizer Hauptstadt, bevor ich dort hinzog.

Ich war noch nie in den Quartieren Bethlehem, Wittigkofen oder Bümpliz gewesen und konnte nicht wissen, dass die Stadt Bern auch noch komplett andere Seiten hat. Erst an der Peripherie der Stadt zeigt sich, dass Bern eine kleine modernistische Metropole ist.

Als ich zum ersten Mal ins Einkaufszentrum „Westside“ in Brünnen fuhr, fielen sie mir sofort ins Auge. Ich konnte sie nicht übersehen. Die riesigen Betonbauten, die schon der berühmte Schweizer Architekt Le Corbusier als “Wohnmaschinen” bezeichnete, ragten überall in West-Bern aus dem Boden in Richtung Himmel. Mit solchen Giganten hatte ich in Bern nicht gerechnet. Über die historische Altstadt wird viel gesagt und geschrieben. Doch die Geschichte einer Stadt, auch diejenige von Bern, endet nicht im 19. Jahrhundert.
Nach dem süssen Kitsch und dem weichen Sandstein der Altstadt war ich angeregt vom brutalen Minimalismus und der erbarmungslosen Symmetrie der Wohnkomplexe. Die Siedlungen verkörpern eine Zukunft vom bezahlbaren Wohnen für jedermann und einen Traum von gemeinschaftlichem Zusammenleben.

Meine Idee war es, diese mächtigen Bauten zu dokumentieren und diese Gebäude als Berner Kulturgut darzustellen. Die Wohnkomplexe stehen weltweit in Gefahr abgerissen zu werden, da sie oft unbeliebt sind und vernachlässigt werden. Deswegen finde ich, man sollte sie noch bildlich festhalten, bevor sie vor der Erdoberfläche verschwinden. Mit Hilfe von Nadia, welche sich genauso für Fotografie interessiert wie ich, wollte ich dieses Projekt verwirklichen. Interessant an unserem Team ist, dass Nadia eine ganz andere Meinung zu diesen massiven Bauten vertritt als ich. Sie findet sie unschön und düster. Dies ist für mich völlig verständlich: Lange hatte auch ich keine positive Einstellung zu diesen Betonklötzen. Erst nachdem ich mich mit Corbusier und seiner idealistischen Vision befasste, fing ich an, mich für diese architektonische Stilrichtung zu interessieren.
Die Vision von Le Corbusier war es, mit den Plattenbauten ein möglichst hohes Mass an Wirtschaftlichkeit erreichen. Diese Effizienz soll der breiten Masse erschwinglichen Wohnkomfort bieten. So stapelte er die Wohnungen aufeinander und baute in die Höhe. Er sprach von der „vertikalen Stadt“.

Durch Fotos von unendlichen Plattenbauwüsten in der DDR, Raumschiff-ähnlichen Sportpalästen der Sowjetunion und monumentalen und doch luftigen Wohnblöcken in Marseille fing ich an, Betonbauten zu lieben. Trotz den unterschiedlichen Geschmäckern machten wir es zu unserer Mission, die Gebäude zu dokumentieren, zu erkunden und zu beobachten. Wir versuchten, in das Leben solcher Wohnsiedlungen einzutauchen und dies anhand von Fotos festzuhalten.

Wir stellten fest, dass es nicht nur die leblosen Fassaden verdienen, im Mittelpunkt unserer Fotografien zu stehen, sondern auch das Leben in und um diese Wohnungen herum.
Dies merkten wir besonders, als wir nach Wittigkofen fuhren. Hier besteht noch ein Hauch der kommunalen Lebensweise, wie sie von den ursprünglichen Verfechtern dieser Komplexe vorgesehen war. Im Quartier stehen fünf 24-stöckige Hochhäuser und acht weitere Wohnblocks. Für die Bewohner stehen ein Einkaufszentrum, eine Primarschule, eine französische Schule, ein Pflegezentrum und mehrere Spielplätze zur Verfügung. Ausserdem sind 130 Wohnungen speziell für Behinderte ausgestattet worden. Die Idee, in einer Siedlung für alle möglichen Mitglieder der Gesellschaft sorgen zu können, lebt in Wittigkofen weiter.

Wir sind zum Fazit gekommen, dass Wohnkomplexe in Bern nicht nur funktional sein können, sondern auch zum Leben und zur Atmosphäre der Stadt beitragen. Carminas Meinung zur Schönheit der Bauten hat sich verstärkt und auch Nadia hat Gefallen daran gefunden. Wir wünschen uns, dass in Zukunft auch diese Seite von Bern und von allen Städten der Schweiz mehr geschätzt wird und erhoffen uns, mit diesem Projekt einen Teil dazu beitragen zu können.

Architekturhistorisches

Die Fliessbandproduktion, so wie sie Henry Ford mit Autoteilen revolutioniert hatte, fand in den frühen 50er Jahren den Weg in die Baubranche. Man begann die industrielle Vorfertigungsweise auf Häuser, Siedlungen und ganze Städte anzuwenden. Diese Vorfabrikation sollte helfen, die damalige Situation der prekären Wohn- und Lebensverhältnisse zu lösen.
Mitte der 50er Jahre war die Lage auf dem Wohnungsmarkt in Bern äusserst beängstigend. In allen Schweizer Städten, mit Ausnahme von Genf, sank die Leerwohnungsquote deutlich unter 1%, was eine immens tiefe Quote ist. Optimal zu dieser Zeit war eine Quote von etwa 2%. Auch die Preisentwicklung war besorgniserregend. Neubauwohnungen kosteten schon seit anhin viel, jedoch stiegen diese Preise durch immer höhere Baukosten an. Diese Situation zwang die Bundesregierung zum Handeln.
Der Startschuss für den sozialen Wohnungsbau und die Hochhäuser im Plattenbaustil war gefallen.

Unter der Bezeichung Plattenbau versteht man die Konstruktionsweise eines Gebäudes mit grossen Betonplatten, welche in der Fabrik vorfabriziert und mit Spezialkranen montiert werden. Weitere Bezeichungen für diesen Baustil sind “Grosstafelbau” oder “Schwere Vorfabrikation”.
Die Idee dieser Bauart hat der schweizerisch-französische Architekt Charles-Edouard Jeanneret, besser bekannt als Le Corbusier, in die Schweiz gebracht. Sein Name steht als Inbegriff für die moderne Architektur und wie sie die Nachkriegszeigt prägte.
Das Ziel von Le Corbusier war eine neue Bauweise zu entwickeln, um dem “Normalbürger” preiswerten Wohnraum zu ermöglichen, welcher trotzdem alle notwendigen Bestandteile für ein angenehmes Wohnen mit sich bringt. So entstand diese schmucklose Architektur, die sich auf Form und Funktion reduziert hatte. Ein Plattenbau ist ein Gebrauchsobjekt und kein Repräsentationsobjekt, es dient einzig und allein zum Wohnen.

Daher entstand jedoch auch das negative Urteil, welches heute weit verbreitet ist. Massenhaft stehen nebeneinandergereiht die genau gleich aussehenden Gebäude. Es ist das krasse Gegenstück des heutigen Individualismus.

Doch nach und nach erkennt man den Wert solcher Überbauungen wieder, erklärt Jürg Sollberger, selbst namhafter Architekt aus Bern. Es treffen die verschiedensten Kulturen aufeinander, Multikulti ist eine grosse Stärke und Bereichernd für die Quartiere. Für die Verwaltung sei es nicht immer einfach, alle Bedürfnisse abdecken zu können, so Sollberger. Um die Wohnungen in den Plattenbauten attraktiver zu gestalten werden Renovierungen und Erweiterungen vorgenommen wie beispielsweise Balkonvergrösserungen. Dies geschieht momentan beispielsweise im Tscharnergut. Ausserdem werden kleine Wohnungen zusammengelegt, um grösseren Wohnraum für mehrköpfige Familien oder Wohngemeinschaften zu realisieren.

Im Raum Bern gibt es nur wenige reine Plattenbauten, viele davon sind Misch- und Hybridobjekte. Alle diese Bauten können einer kleinen Gruppe von Architekten, Bauherren und Produzenten zugeordnet werden. Eines dieser Architekturbüros, welches in der Schweiz sehr hohe Bekanntheit geniesst, ist Reinhardpartner von Bern. Dieses Büro wurde von Hans und Gret Reinhard gegründet. Jürg Sollberger übernahm, als Teil eines Kollektivs, das Geschäft nach dem Tod der beiden Gründer.
Reinhardpartner hat unter anderem in den 60er und 70er Jahren bei der Realisation der Überbauungen Tscharnergut, Gäbelbach und Schwabgut mitgewirkt.

Dank Grossüberbauungen konnten in Bern total 7’745 neue Wohnungen realisiert werden. Das macht 10% des Wohnungsbestandes der Stadt Bern aus. In diesen Wohnungen leben heute ungefähr 15’120 Menschen, das sind 12% der Gesamtbevölkerung der Stadt. Trotzdem konnte die Wohnungsnot der 50er, welche sich bis in die 60er Jahre weiterzog, nicht gelindert werden. Die Situation verschlimmerte sich nochmals in den 70er Jahren, als die Leerwohnungsquote auf ein Rekordtief von 0.04% sank. Die Bevölkerung wuchs in diesen Jahren rasant an und die Menschen zog es vom Land in die Stadt. Erst Mitte der 70er Jahren wurde die Wohungsnot durch das Eintreten der Rezession gelindert.

Trotz all den vielen Vorzügen, konnte sich der Plattenbau in der Schweiz nie durchsetzten. Der Preis war aufgrund der zu kleinen Produktionsmenge und zu grossen Lieferwege der Produzenten immer noch zu hoch und ergab eine kleine Rendite. Man suchte weiter nach anderen, besseren Möglichkeiten - was bis heute andauert. “Die Lösung” für perfekte Wohnverhältnisse ist bis heute unbekannt.

Wohnkomplexe in Bern

Gäbelbach

Das Gelände liegt am äusseren, westlichen Rand der Stadt Bern und umfasst mit einer Gesamtfläche von rund 159'000 Quadratmeter auch ein landschaftlich reizvolles Naherholungsgebiet mit Wald und Fluss, das Gäbelbachtal. Das Gebäude wurde ins Inventar der Denkmalpflege der Stadt Bern aufgenommen, in die Kategorie "Gebäude nach 1960".

Klick auf die Fotos um sie in Grossformat anzuschauen!



Bethlehemacker

Die Siedlung Bethlehemacker ist eine der ersten grossen Nachkriegssiedlungen auf Berner Boden. Sie stellt einen Meilenstein in der Entwicklung des sozialen Wohnungsbau dar und wurde in der damaligen Presse viel behandelt.




Hochhäuser und Domizil Schwabgut

Das Domizil Schwabgut beherbergt ein Pflege- und Altersheim im unteren Geschoss sowie Invaliden- und Alterswohnungen in den oberen Geschossen.




Zusätzlich gibt es drei weitere zwölf-stöckige Hochhäuser welche im Quartier Schwabgut erbaut wurden, diese enthalten je 154 Wohnungen.





Kleefeld

Bis 1967 war auf dem Gebiet, auf welchem heute die Überbauung Kleefeld steht, ein grosser Bauernhof anzutreffen. Das immer stärker wachsende Bümpliz brauchte Platz, sodass dieser zur Schaffung von neuem Wohnungsgrund weichen musste.




Tscharnergut

Das Tscharnergut ist die berühmteste Siedlung auf Berner Boden. Sie gab den Startschuss zur Entwicklung von Bern-West und war das Ergebnis eines Ideenwettbewerbs. Es ist die erste Grossüberbauung, die weitgehend autofrei ist - innerhalb der Siedlung führen lediglich kleine Strichstrassen zu den Parkplätzen und Einstellhallen. Die restlichen autofreien Aussenräume stehen den Bewohnern und vor allem den Kindern zur freien Verfügung.





Wittigkofen

Im Quartier Wittigkofen stehen fünf 24-stöckige Hochhäuser und acht weitere Wohnblocks. Darin leben heute etwa 3000 Menschen. Vor 40 Jahren waren es noch ungefähr 5000 Personen.





Bildergalerie

Hier findest du eine Auswahl der Fotos, welche wir von den Bauten gemschossen haben:






Wenn du noch mehr Fotos anschauen willst, dann öffne unser Flickrprofil. Hier findest du unsere Lieblings-Shots!





Interview mit Architekturhistoriker Dieter Schnell

Der renommierte Architekturhistoriker PD Dr. Dieter Schnell beantwortete uns einige Fragen betreffend Plattenbauten in Bern. Seine Antworten haben wir zu einem kurzen Hörspiel zusammengeschnitten.

Viel Spass beim Hören!







Wittigkofen

Gespannt sind wir an einem freien Tag vom Bahnhof Bern mit dem Tram nach Wittigkofen gefahren. Durch die charmante Altstadt, das Kirchenfeldquartier und den kalten Ostring, bis wir zur Endstation Wittigkofen gelangten. Als wir aus dem Tram stiegen, schauten wir uns mit Überwältigung um. Das Quartier ist riesig!

Ein kleines, bepflanztes Strässchen, beinahe ein Waldweg, führte uns zum ersten des dreizehn-teiligen Komplexes. Wir waren beide verblüfft. Das Gebäude war himmelhoch, ein gigantischer Betonklotz, auf der einen Seite mit Solarzellen bestückt. Rund herum war alles grün, Bänke und Tische zierten die Grünflächen.
Wir liefen weiter, an einem grossen Kinderspielplatz, einem Sportgelände und einer riesigen Wiese vorbei. Es war ein schöner Tag, Wittigkofen zeigte sich uns von seiner schönsten Seite. Die Gebäude waren gut erhalten und sauber. Es war fast schon idyllisch!

Davon erzählte uns auch Jürg Sollberger, er meinte, dass Wittigkofen einem höheren Standard entspreche. Die Wohnungen seien jedoch entsprechend teurer. Ausserdem ist Wittigkofen 1970 entstanden, zu diesem Zeitpunkt gab es das Tscharni schon über 10 Jahre. Wittigkofen sollte praktisch wie ein eigenes, autonomes Städtchen funktionieren. Die Wohnungen im Berner Westen, wie zum Beispiel das Tscharnergut oder der Gäbelbach, sind viel mehr standardisiert. Dies hängt, so der Architekt, mit dem Plattenbaustil zusammen, denn man wollte in den 50er und 60er Jahren so günstig wie möglich bauen. Deswegen wurde eine einheitliche Schablone für alle Wohnungen entwickelt. Hier betonte Sollberger die Wichtigkeit, solche günstigen Wohnungen in Bern beizubehalten. Viele Leute seien darauf angewiesen, in Stadtnähe zu wohnen und trotzdem nicht allzu viel zu bezahlen. In Wittigkofen ist die Aufteilung ganz anders, die Wohnungstypen sind unterschiedlich und somit auch die Preise.

Beim Entwurf des Wohnungskomplexes Wittigkofen wurde alles, was die Bewohner brauchen würden, mit eingeplant. So gibt es auf dem Areal ein Zentrum mit Supermarkt und anderen kleinen Läden, eine Primarschule, eine französische Schule, ein Pflegezentrum und zehn Kinderspielplätze mit Rasenflächen für Ballspiele zusätzlich gibt es einen Sportplatz.

Zu den dreizehn Wohnhäusern gehören fünf Hochhäuser und acht Kettenhäuser, bei denen drei unterschiedlich hohe Gebäude aneinandergereiht sind. In einem der Häuser befinden sich 130 speziell für Gehbehinderte konzipierte Wohnungen. Wittigkofen beinhaltet somit alle Aspekte einer kleinen Stadt und stellt quasi eine Mikro-Gesellschaft dar.





Der Quartierplan, auf welchem wir uns einen Überblick über das Quartier verschafft haben. Dieser findet man gleich bei der Tramhaltestelle "Wittigkofen".


Das Quartierzentrum mit dem eigenen Migros.





Eines der fünf Hochhäuser.



Portraits


Wir hatten bei unserem Ausflug nach Wittigkofen das Glück, mit einigen Bewohnern des Quartiers zu sprechen und sie zu porträtieren. Wir sind allen auf unserem Spaziergang durch das Quartier begegnet und jeder war begeistert, von ihrem Zuhause und ihrem Leben in Wittigkofen erzählen zu dürfen.





Belen mit ihren zwei Töchtern Luna und Nur. Die Familie wohnt seit ungefähr vier Jahren im 19. Stock. "Die vielen Spielplätze sind perfekt für die Kinder und hinter dem Quartier gibt es einen Bauernhof, da kann man immer frische Produkte einkaufen. Die Natur ist auch sehr wichtig für die Kinder, sie sollen einen guten Mix zwischen Stadt und Land erleben."





Vesna wohnt im 9. Stock. "Jeden Abend geniesse ich den Sonnenuntergang."





Karim und Yassin, die beiden lustigen Jungs aus dem 16. und 19. Stock. "Uns gefällt die Natur im Quartier. Aber auch die Architektur hier finden wir extrem spektakulär!"





Jean-Marc, er wohnt seit 20 Jahren im neunten Stock. "Damit meine Töchter keinen langen Weg hatten, um die französische Schule zu besuchen, zog ich in dieses Quartier." Anfangs fand Jean-Marc die Hochhäuser gewöhnungsbedürftig, doch heute hat er grossen Gefallen daran gefunden.





Heidi wohnt nicht in Wittigkofen selbst, sondern im Nachbarquartier Murifeld. "Ich habe hier noch nie Gewalt oder agressives Verhalten erlebt. Das finde ich speziell schön an Wittigkofen!" Heidi möchte jedoch nicht ins Quartier ziehen, da sie sich vor der Höhe fürchtet. Auch eine Parterrewohnung in einem solch hohen Gebäude kommt für sie nicht in Frage, denn da würde das ganze Gewicht der oberen Stockwerke auf ihr lasten.






Andrea wohnt bereits ihr ganzes Leben, also seit 28 Jahren, in der Grossüberbauung Wittigkofen. "Ich wohne in einer Parterrewohnung," sagte sie uns stolz. Ausserdem schätzt sie an Wittigkofen die Nähe zur Stadt und die grüne, natürliche Umgebung.






© Digezz 2016 | Carmina Grünig & Nadia Etter